Grenzenlos national
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Die Biennale in Venedig ist das weltweit größte Spektakel der Gegenwartskunst. Zum ersten Mal sind auch Ghana, Madagaskar, Malaysia und Pakistan mit Ausstellungen vertreten. Doch wie geht das zusammen – ein grenzenloses Festival mit national präsentierter Kunst?
Als "offen und grenzenlos" bewarb Biennale-Präsident Paolo Baratta vorab die 58. Kunstbiennale von Venedig. Unter dem Motto ‚May You Live in Interesting Times‘ beteiligen sich dieses Jahr 90 Länder an der Kunstschau.
Die seit je teilnehmenden Nationen zeigen sich und ihre Kunst in eigenen, traditionsreichen Pavillonbauten in den Giardini, Venedigs Biennale-Park. Alle anderen müssen ihre nationalen Showrooms anderswo öffnen, in den weitläufigen Hallen des Arsenale oder irgendwo in der Stadt. So auch die vier Länder, die dieses Jahr zum ersten Mal teilnehmen: Ghana, Madagaskar, Malaysia und Pakistan. Alle vier Biennale-Newcomer sind ehemalige Kolonien Großbritanniens oder Frankreichs. Was bedeutet ihnen die Teilnahme am Gegenwartskunst-Spektakel?
"Ghana Freedom"- nach einem Song aus dem Unabhängigkeitsjahr 1957 ist der Pavillon Ghanas benannt, ein richtiges kleines Museum ist in den Hallen des Arsenale entstanden. Gelblich-erdfarbene Wände grenzen mehrere Räume voneinander ab. Gezeigt werden Werke von sechs Künstlerinnen und Künstlern aus drei Generationen - Fotografie, Gemälde, Videoarbeiten, Objekte und Installationen.
"Wenn etwas Ghana repräsentiert", sagt die Kuratorin der Ausstellung, die ghanaische Kunsthistorikerin und Filmemacherin Nana Oforiatta Ayim, "dann ist es die Pluralität und Vielfalt der Formen und Stimmen." Einige der Künstlerinnen und Künstler leben in dem westafrikanischen Land, andere nicht. "Das", so die Kuratorin, "war für mich ziemlich interessant: Zu sehen, wie sich die nationalen Grenzen ausbreiten, die nicht so evident sind."
Die Erde häutet sich
Mit mehreren Arbeiten ist auch El Anatsui vertreten, ein Star der afrikanischen Kunst. 1944 kam er in Ghana auf die Welt. Heute lebt er in Nigeria. Für sein Lebenswerk wurde El Anatsui schon mit dem Premium Imperiale und in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. "Earth shedding it's skin" – "die Erde häutet sich" heißt seine monumentale Installation am Eingang des Pavillons: Eine riesige gold-gelbe Skulptur, eigentlich ein Wandteppich aus zahllosen alten Flaschen-Verschlüssen. Die golden schimmernde Wand erinnert an den früheren Namen Ghanas, die Goldküste. Der Ausstellungstitel "Ghana Freedom" gefällt El Anatsui. In seiner Kunst gehe es immer um Freiheit, sagt er. "Meine Werke haben keine festgelegte Form. Sie können sich in alles Mögliche verwandeln."
"Wir sind hier in Ghana!"
Ghanas Biennale-Pavillon hat David Adjaye entworfen, ein international tätige Architekt mit Büros in London, New York und Accra. "Die elliptischen Formen sind inspiriert von der traditionellen Bauweise der Sahel-Zone, der Königreich-Architektur des Nordens", sagt er. Sogar Erde aus Ghana ließ der Architekt nach Venedig verschiffen. "Wir sind hier nicht in Disneyland. Das ist echte ghanaische Erde, damit ein echtes Gefühl für die Geografie entsteht", erklärt er und lacht: "Wir sind hier in Ghana!"
Die Länderpavillons sind eine Besonderheit, die die Biennale in Venedig von den mittlerweile weit über 100 Kunstbiennalen weltweit unterscheidet. Alle zwei Jahre wird hier eine Art Nationen-Wettkampf der Kunst zelebriert, der schon oft kritisiert worden ist.
Anachronistischer Nationen-Wettkampf
In der vernetzten globalisierten Welt von heute erscheinen Venedigs steinerne Nationenhäuser für die Kunst bestenfalls anachronistisch. David Adjaye weist diese Kritik von sich. Schließlich komme sie vornehmlich von Europäern, die auf der Biennale von Anfang an vertreten sind. "Wenn du etwas seit mehr als 100 Jahren hast, kannst du ziemlich faul werden mit all deinen Privilegien. Aber es ist ein Wahnsinnsding, auf dieser Weltbühne dabei zu sein! Klar kann man sagen, dass nationale Pavillons sinnlos und nicht wichtig sind. Aber ich finde, sie sind wichtig, um Kunst und Kultur anderer Länder zu verstehen, ohne zwangsläufig dorthin zu reisen."
Ein Mahnmal für getötete Migranten
Von der lebensgefährlichen und oft tödlichen Reise vieler junger Männer aus Ghana handelt die Videoinstallation des britischen Filmkünstlers John Akomfrah. "Immer wenn wir über Migration aus Afrika sprechen, geht es um den Weg über das Mittelmeer, aber viele Hundert mehr kommen schon vorher ums Leben. In der Sahara. 2007 war ich in Nord-Ghana. Ich traf damals einige junge Männer, die alle versuchten, das Land zu verlassen. Sie wollten nach Europa. Von einem bestimmten jungen Mann weiß ich, dass er das nicht überlebt hat. Der Film ist eine Art Mahnmal für die Leute, die ich auf meiner Reise traf." Er weist auf das riesige Schiffswrack gegenüber dem Pavillon, das der Schweizer Künstler Christoph Büchel ins Arsenale bringen ließ: Überreste einer gescheiterten Fahrt über das Mittelmeer, bei der Hunderte Migranten ums Leben kamen. Das Wrack ist Teil der internationalen Biennale-Ausstellung. "Eine Abscheulichkeit", sagt John Akomfrah.
"Ich verstehe die Provokation. Aber: Wird das verkauft werden? Und wenn ja: Wer bekommt das Geld? Mindestens 200 Menschen sind auf diesem Ding gestorben. Werden ihre Familien irgendetwas davon sehen? So etwas auszustellen hat Konsequenzen. Und eine davon hat mit Restitution zu tun. Wenn die Menschen nicht daran beteiligt sind, ist das Pornografie. Und das interessiert mich nicht."
Madagaskar als melancholischer Zwischenraum
"I have forgotten the night" heißt die Ausstellung im Pavillon von Madagaskar. Zu sehen ist ein Werk des Künstlers Joel Andrianomearisoa.
Eine tiefschwarze Rauminstallation, bestehend aus zahllosen Papierbahnen, die von den hohen Dachbalken der Arsenale-Halle herabhängen. Zwischen dem feinen, raschelnden, seidig schwarzen Papier kann man sich bewegen, ein bisschen wie in den Gängen eines dunklen Papierpalastes. Aus Lautsprechern tönt Gesang von Frauen.
Die Installation wolle Madagaskar "so poetisch wie möglich" zeigen, sagt der Kurator Rina Ralay Ranaivo, "weil Madagaskar ein poetisches Land ist." Auch von Melancholie ist viel die Rede in diesem schwarzen Zwischenraum des madagassischen Pavillons. Die Melancholie sei in Madagaskar zu Hause, meint der Künstler, sie sei ein schwer greifbares Talent. Und auch Venedig sei ja eine melancholische Stadt.
Mitten im melancholischen Venedig, im Stadtteil Castello, hat Pakistan einen Ausstellungsort für seinen ersten Biennale-Beitrag gefunden.
Zahra Khan, die junge Kuratorin führt durch den "nationalen Pavillon" im Erdgeschoss eines alten venezianischen Wohnhauses.
Zu sehen sind Objekte, Aquarelle und Videos der Künstlerin Naiza Khan. "Manora Field Notes" heißt die Schau.
"Manora ist eine Insel vor der Küste von Karachi, Pakistans größter Hafenstadt", erzählt Zahra Khan. "In 15 Minuten kommt man mit dem Schiff von Karachi auf Manora. Die Insel ist ein geschichtsträchtiger multireligiöser Ort. Es gibt dort einen sehr alten Hindutempel, einen Sikh-Tempel, eine Kirche, mehrere Moscheen. Auf der Insel wohnen noch Menschen, und viele kommen am Wochenende, um sich zu erholen. Auch Naiza, die Künstlerin, ist über viele Jahre hinweg immer wieder nach Manora gekommen." In der Ausstellung hört man die Aufnahme eines historischen Wetterberichts von 1939. Es geht um einen tropischen Wirbelsturm und die Schäden, die er verursachte."Hundreds of birds killed" hat die Künstlerin die Klanginstallation genannt. Dazu zeigt sie auf kleinen Podesten schimmernde Objekte aus Blech, inspiriert von dem Katastrophenbericht: Reliefartige Landkarten, darauf - aus Blech geformt oder eingraviert – sind Häuser, Vögel, Muscheln, eine Kuh zu sehen … Wir bewegen uns zwischen den Blechobjekten wie in einer eigenartigen poetischen Insellandschaft.
Blick in eine andere Wirklichkeit
"Was wir mit diesem Pavillon erreichen wollen, ist, dass die Besucher in Pakistan ‚eintauchen’, sagt Zahra Khan. Die Idee sei, dass die Künstlerin eine Art Teleskop für die Besucherinnen und Besucher ist, ein "Fernglas, durch das sie eine andere Wirklichkeit als ihre eigene entdecken können".
Im Innenhof der Ausstellungsräume steht tatsächlich ein Teleskop. Wer durchschaut, sieht in einem Video Straßen und Strände von Manora Island. Die Insel sei für sie eine Art Fluchtraum geworden, erzählt die Künstlerin Nazia Khan. Sie lebt in London und Karachi, wo sie auch an der Kunstakademie unterrichtet. Es sei nicht einfach, in Pakistan als Künstlerin zu arbeiten. "Es gibt so viele Mauern. Vieles läuft falsch. Es gibt Bombenattentate. Die Sicherheitslage ändert sich ständig. Du kannst einen ganzen Arbeitstag geplant haben – und dann geht gar nichts mehr, weil die Straßen gesperrt sind. Wenn es regnet, macht alles dicht. Manchmal fällt 15 Stunden lang der Strom aus. Dann die Hitze – 45 Grad an vielen Tagen. Das sind die Arbeitsbedingungen. Aber es gibt eine sehr lebendige Kunstszene, in den Kunsthochschulen wird viel tolle Arbeit produziert. Die Leute brauchen Luft zum Atmen. Sie brauchen Möglichkeiten."
Die Biennale als privilegierter Club
In Venedig mit einem nationalen Pavillon präsent zu sein, sei sehr wichtig für die pakistanische Kunstszene, sagt Naiza Khan. Der internationale Austausch sei unvollständig, wenn nur Europa und der sogenannte "Westen" auf der Biennale vertreten seien. Allerdings sei sie schockiert von den enormen finanziellen Mitteln, die manchen Ländern für ihre Biennale-Ausstellungen zur Verfügung stehen. Wer es mit Kunst- und Kulturaustausch ernst meine, müsse den armen Ländern den Zugang zur Biennale erleichtern. "Sonst bleibt Venedig ein privilegierter Club."
Nationale Pavillons als Ruinen
Zum privilegierten Club gehört auch Deutschland, das für diese 58. Kunstbiennale nicht erst einen Ausstellungsort finden musste. Seit 1909 steht im Biennale-Park Giardini der deutsche Pavillon, ein monumentales Haus für die Kunst und ein düster geschichtsträchtiger, 1938 umgestalteter nationaler Repräsentationsbau, von dem es immer wieder heißt, dass sich Künstlerinnen und Künstler, Kuratorinnen und Kuratoren an ihm "abarbeiten".
Die Kuratorin Franciska Zolyom bezeichnet den nationalen Pavillon als einen "ruinösen Ort". Das Ruinöse haben sie und die Künstlerin Natascha Süder Happelmann auch sichtbar gemacht. Sie verzichteten darauf, die Innenräume nach der Architekturbiennale zu renovieren und in den üblichen "White Cube" der Kunstpräsentation zu verwandeln. "Ankersentrum (surviving in the ruinous ruin)" heißt ihr Biennale-Beitrag. Damit wird natürlich an die bayrischen "Ankerzentren" erinnert, in denen Asylsuchende allerdings kaum einen "Anker" finden.
Die "soziopoetische Kraft der Veränderung"
Statt der Idee der Gemeinschaft, die auf Ausschließung und Ausgrenzung basiert, schlägt das Kunstprojekt im deutschen Pavillon ein anderes, ein offenes Verständnis des Zusammenwirkens von Menschen vor. "Begriffe wie ‚Zusammensein’ im Unterschied zu Gemeinschaft machen es möglich, dass wir über das Zusammenleben in ganz vielen unterschiedlichen Formen nachdenken", sagt Franciska Zolyom. Die Ästhetik einer offenen Form "besitzt die soziopoetische Kraft der Veränderung". Selbst in den engen Grenzen eines nationalen Pavillons auf der Biennale von Venedig.