Angela Merkel, die ganz nah an der Mauer lebt, geht erst einmal in die Sauna, als die Schlagbäume aufgehen, routinemäßig. Die Doktorin am Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR lässt auch diesen historischen Tag gemächlich angehen. Erst später am Abend schaut sie am Grenzübergang Bornholmer Straße vorbei, um ein wenig Westluft zu schnuppern, kehrt aber bald zurück, weil sie "früh raus" muss.
Umso rasanter verläuft ihre Politikkarriere. Ein paar Wochen nach dem Mauerfall beschließt Angela Merkel, sich politisch zu engagieren. Sie schaut zuerst bei der SDP vorbei, den neu gegründeten Sozialdemokraten Ost, dann beim "Demokratischen Aufbruch". Dort kümmert sie sich zunächst mal um den Computer.
Keine vier Monate später wählt die DDR zum letzten Mal. Der Demokratische Aufbruch erringt nur magere 0,9 Prozent, ist aber dank seiner Allianz mit der CDU trotzdem Wahlsieger. Merkel wird stellvertretende Regierungssprecherin. Acht Monate später ist sie Mitglied des Bundestages.
Anfang 1991 wird sie als Ministerin für Frauen und Jugend im Kabinett von Kanzler Helmut Kohl vereidigt. Auch die fremde CDU-Welt begreift sie schnell. 1998 wird sie Generalsekretärin, Ende 1999 schreibt sie in einem Gastbeitrag in der FAZ, die Partei müsse, "in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross" zu kämpfen lernen. Es ist das Ende der Ära Kohl.
Zeitzeugen: Rainer Eppelmann, Demokratischer Aufbruch/CDU; Hans Christian Maaß, Sprecher der letzten DDR-Regierung; "Acki" Bull, Fischer in Merkels Wahlkreis; Jacqueline Boysen, Biografin u.a.
Merkel-Jahre
Der unwahrscheinliche Weg der Angela M.
(2/6) Ein plötzlicher Aufbruch
Feature-Serie von Stephan Detjen und Tom Schimmeck
Ton und Regie: Tom Schimmeck
Es sprachen: Annette Burchard, Stephan Detjen und Tom Schimmeck
Redaktion: Wolfgang Schiller
Produktion: Deutschlandfunk 2021
(Folge 3 + 4 am 27.7.2021, 19.15 Uhr)
Stephan Detjen, 1965 in Bayreuth geboren, ist Chefkorrespondent des Deutschlandradios und leitet das Hauptstadtstudio in Berlin und das Studio Brüssel. Von 1997 bis 1999 war der Jurist und Historiker rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe. Als Buchautor hat er sich mit Fragen des Verfassungsrechts und der politischen Öffentlichkeit beschäftigt. Die Kanzlerin Angela Merkel beobachtet er von Anfang an aus der Nähe.
Tom Schimmeck, 1959 in Hamburg geboren, arbeitet seit 1979 als politischer Journalist für Presse und Hörfunk. Über Helmut Kohls ersten Wahlsieg 1983 berichtete er aus Bonn. Seit 2004 macht er Radiofeatures für den Deutschlandfunk und die ARD. Seine Arbeit wurde u.a. mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Ernst-Schneider-Preis, dem Schweizer Featurepreis, dem RIAS-Radiopreis und dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet.