Faible für das Uneigentliche
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Sie experimentiert gern mit Klängen, ist Teil der Berliner Echtzeitmusik-Szene, spielt mit den musikalischen Aspekten von Sprache und komponiert aus Dialekten und anderen Fundstücken Hörspiel-Collagen. Die Radiokünstlerin Antje Vowinckel im Porträt.
Zwei Zimmer in Berlin Neukölln. Genug Platz für Antje Vowinckel, um so einige Instrumente unterzubringen: Klavier, Saxophon und Gitarre stehen in ihrer selbstgebauten Mini-Studio-Box im Schlafzimmer, die Querflöte hingegen liegt seit sechs Jahren im Schrank. Stattdessen hat die Klangkünstlerin die Orgel entdeckt – die sie aber keineswegs auf herkömmliche Weise spielt.
...Orgelklänge...
Antje Vowinckel: "Ich hab’s dann eben so eingestellt, dass es wirklich höllisch rauscht… Dazu immer wieder ein neuer Ton… Ich spiel dann eben so’n bisschen mit den… das ist dann natürlich das Rauschen, was man eigentlich nicht hören soll."
Eigentlich… Aber das "Eigentliche", das Gewohnte und Gewöhnliche, ist gar nicht das, was Antje Vowinckel interessiert.
Antje Vowinckel: "Ja, ich hab so’n Faible für das "Uneigentliche" sozusagen. Das habe ich mir gar nicht vorgenommen, aber als ich mir die Stücke, die ich alle so gemacht habe, mal angeguckt habe, habe ich gemerkt, dass ich offensichtlich ein Faible hab für Fehler und Missverständnisse… und das Uneigentliche."
Musik machte Antje Vowinckel schon als Kind in Bielefeld, zunächst ganz klassisch, dann brachte ihr Mathelehrer sie in einer Jazz-AG das erste Mal zum Improvisieren. Nicht nach Noten zu spielen war damals eine echte Herausforderung. Und dann war sie mit 16 oder 17 Jahren bei einem Free Jazz Konzert – ein Schlüsselerlebnis.
Antje Vowinckel: "Also, es war eins der ersten Konzerte, auf das ich nicht mit meinen Eltern gegangen bin, sondern mit Freunden, das war damals in Bielefeld im Bunker Ulmenwall, und die Musiker kamen so auf die Bühne und stimmten so ihre Instrumente und spielten sich dann so langsam ein. Und ich hab dann irgendwann gedacht, 'Mensch, die stimmen aber lange' oder 'die spielen sich ja lange ein', und irgendwann kam der erste Applaus. Und da hab ich gemerkt: Ah! Ich war offensichtlich nicht mal in der Lage, zu erkennen, dass das Musik war. Und das hat mich sehr beschäftigt."
Dieses Erlebnis hat sich eingebrannt. Seitdem sind 38 Jahre vergangen, Antje Vowinckel hat ein Studium der Musik und Literaturwissenschaft hinter sich, eine Dissertation über Collagen im Hörspiel geschrieben. Sie ist im Jahr 2000 nach Berlin gezogen und in Berliner Kellerräumen, Hinterhöfen und heruntergekommenen Industriebauten in die Echtzeitmusik-Szene eingetaucht. Eine Szene, die von der Improvisation lebt. Und auch davon, Instrumente anders, auf ungewohnte Arten zu spielen.
Antje Vowinckel: "Ich komm immer mehr dahin, die Energie des Livemoments eben auch zu nutzen, aber ich bin nicht so ‘ne typische Rampensau. Also, das ist, glaub ich, nicht mein Gebiet."
Inzwischen arbeitet Antje Vowinckel viel mit Improvisation und ist auch bisweilen auf der Bühne bei Performances zu sehen. Dennoch: Es wundert nicht, dass diese ruhige und besonnene Musikerin zum Radio gefunden hat – einem Medium, bei dem man durch den Schnitt immer wieder die Kontrolle über die Improvisation bekommt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht ihre Hörgewohnheiten hinterfragt oder immer wieder versucht, anders zu hören, neu zu hören. Auch ihren Radiostücken merkt man das an.
Antje Vowinckel: "Etwas, was mich wirklich permanent bewegt, ist auch, immer neue Verhältnisse von Text und Musik zu finden. Als ich angefangen habe, Hörspiel zu machen, hab ich ja auch gedacht, ich könnte meine beiden Leidenschaften – Literatur und Musik – zusammenbringen, das wäre die ideale Lösung. Aber ich hab dann eben nach einer Weile auch gemerkt, dass es da meistens so hierarchische Verhältnisse gibt und dass es sehr schwer ist, die Musik zu entwickeln, wenn ein Text da ist. Und irgendwie hat mich das angespornt, nach immer neuen Kombinationsmöglichkeiten zu suchen."
Eines der ersten Beispiele ist ihr 2005 entstandenes Hörstück "Call me yesterday". Darin untersucht die Radiokünstlerin Sprachkurse der 50er, 60er und 70er Jahre auf Vinyl und Audio-Kassette. Sie führt vor, wie pathetisch vorgetragene Vokabellisten und überdeutlich ausgesprochene Sätze ein ungewolltes Eigenleben entwickeln. Bedeutung und Klangkörper wollen zusammengehören, werden aber immer wieder voneinander getrennt.
Ausschnitt Hörstück "Call me yesterday"
Antje Vowinckel: "Also, wenn die dann sagen, 'This is a cab and that is a table', dann ist da ja schon Musik drin, also Musik, die keiner erfunden hat, niemand komponiert hat. Aber sie ist da und da kommt eben beides ganz klar zusammen, und in dem Stück kann dann eben eigentlich immer der Hörer oder die Hörerin entscheiden: Ist das jetzt Text oder ist das Musik? Also, das gefällt mir, dieses Vexierspiel und dass das so’n bisschen offen bleibt."
Seit "Call me yesterday" beschäftigt sich Antje Vowinckel immer wieder mit Sprechmelodien. Sie geht explizit auf die Suche nach seltenen Dialekten – am liebsten von Sprachen, die sie gar nicht versteht. Später imitiert sie die Dialektmelodien dann mit anderen Instrumenten und improvisiert dazu. Oder sie lädt andere Musikerinnen und Musiker ein, diese Melodien nachzusummen.
Wurfsendung aus der Reihe "Dialektkaraoke": Buttermilk
Antje Vowinckel spielt nicht nur mit Text und Musik, sondern auch sehr gern mit verschiedenen Genres. Sie mag es, ein Hörstück zum Beispiel als Feature zu beginnen, die Hörer bewusst auf eine falsche Fährte zu führen, um das Stück dann schleichend zu einem Klangkunst-Stück werden zu lassen. Diese Übergänge und Kipp-Momente versucht Antje Vowinckel immer wieder herzustellen.
Antje Vowinckel: "Also, dass es nicht gleich so mit so ‘nem Kunsthammer irgendwie anfängt, sondern ich fange eigentlich gerne so im Nichts oder im ganz Alltäglichen an. Und dann so ganz allmählich entwickelt sich das erst. Das gefällt mir, dass jeder Hörer oder jede Hörerin das an einem anderen Zeitpunkt merkt, dass da etwas passiert."
Ein Paradebeispiel dafür ist ihr Stück "Galapagos-Kreuzblende". Darin spricht ein Ornithologe über den Galapagos-Finken und wie Vogelgesänge dazu beitragen können, dass neue Arten entstehen. Die Vogelgesänge, die man zunächst illustrativ im Hintergrund hört, drängen sich immer mehr in den Vordergrund und mischen sich mit dystopisch anmutenden Vogelklängen, die Antje Vowinckel mit virtuellen Instrumenten erzeugt.
Ausschnitt Hörstück "Galapagos-Kreuzblende"
Um Natur geht es auch in Antje Vowinckels jüngstem Hörstück mit dem Namen "Goethe to Go".
Antje Vowinckel: "Also, ich bin gerne in der Natur, und ich weiß auch, dass das vielen Menschen so geht. Aber keiner spricht mehr darüber. Also, wir haben keine Sprache mehr dafür so wie Goethe sie hatte. Es wirkt alles sofort immer unheimlich kitschig und man kommt sich vor wie so’n Alpenvereinsvorsitzender, wenn man das sagt. Und ich hab mich gefragt: Gibt es noch eine Möglichkeit darüber zu sprechen? Wie könnte die sein? Wie könnte eine zeitgenössische Art sein, über Natur zu sprechen?"
Also schickte sie zehn Performer und sich selbst mit Mikrophonen auf den Goethe-Wanderweg in Ilmenau und zu der Hütte, wo Goethes berühmtes Gedicht "Wandrers Nachtlied" entstanden ist. Der Auftrag: ununterbrochen sprechen und kommentieren, was sie sehen. Sprechend improvisieren. Und aus den unterschiedlichen "automatic speaking" Aufnahmen hat Antje Vowinckel am Ende eine Sprechlandschaft gewebt, eine Komposition aus Gesprochenem und Feldaufnahmen – den Klängen der Natur.
Ausschnitt Hörstück "Goethe to Go"
Unter die Sprechlandschaft legt Antje Vowinckel die Atmosphäre des Waldes. Außerdem bespielt sie Gegenstände, die sie im Wald oder im Goethe-Häuschen findet, und erzeugt daraus Klänge. Oder sie spielt Saxophon zusammen mit der quietschenden Tür im Goethe-Häuschen. Natürlich spielt sie nicht gewöhnlich, sondern Multiphonics – also Griffe, bei denen mehrere Töne gleichzeitig erklingen.
Ausschnitt Hörstück "Goethe to Go"
Antje Vowinckel: "Mittlerweile geht es mir so, wenn ich eben durch Landschaften gehe, dann sieht man… hört man quasi ständig diese… na ja, man sieht eigentlich die Klänge. Wenn ich jetzt so’n Tor irgendwo in einer Landschaft sehe, ich hör sofort, also, ich sehe das Quietschen. Das kommt sofort. Also, dann gehe ich auch durch eine Landschaft und höre Klänge, die es gar nicht zu hören gibt."