Schon die Schwangerschaft mit Diana war kompliziert, erinnert sich die Großmutter. Ihre Tochter, frisch getrennt, entscheidet sich für eine anonyme Geburt. Erst Monate später holt sie das Kind zu sich und versöhnt sich mit Dianas Vater. Die Tante berichtet von den seltenen Besuchen: Zunehmend wirkt die Kleine abwesend, verhaltensauffällig. Als die Großmutter eine Beratungsstelle anruft, bricht das Paar den Kontakt ab, zieht um. Ihrer Lehrerin fällt Diana sofort auf: distanzlos, immer im Mittelpunkt. Woher die blauen Flecken kämen? Seit einer unglücklichen Kopfverletzung sei ihre Tochter sehr ungeschickt, erklären die Eltern und bedanken sich für die Fürsorge der Schulärztin. Sie ist nur eine von vielen, die Dianas Weg kreuzten und von ihrer Geschichte erzählen. Denn schon wenig später besucht Diana eine neue Schule.
Die Ungeschickte
Nach dem Roman von Alexandre Seurat
Übersetzung aus dem Französischen: Frank Weigand
Bearbeitung und Regie: Ulrich Lampen
Mit: Hedi Kriegeskotte, Katharina Marie Schubert, Stephanie Eidt, Katja Teichmann, Sina Martens, Imogen Kogge, Frauke Poolmann, Christoph Gawenda, Florian Anderer, Aylin Esener, Martin Rentzsch, Barbara Philipp, Charlotte Müller, Ulrich Blöcher, Markus, Gertken, Nico Holonics, Bernd Hörnle, Ulrich Lipka, Ulrich Lampen
Komposition: Bert Wrede
Ton und Technik: Alexander Brennecke, Christoph Richter
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2019
Länge: 54'30
Alexandre Seurat, geboren 1979, französischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, unterrichtet Literatur an der Universität von Angers. Sein 2015 erschienener Debütroman „La Maladroite“ („Die Ungeschickte“) beruht auf einer wahren Begebenheit, der „Affaire Marina Sabatier“. Der Prozess rund um den Misshandlungsfall löste 2012 in den französischen Medien eine kontrovers geführte Debatte um die Rolle der staatlichen Kinderfürsorge aus. Es folgten die Romane „L’administrateur provisoire“ (2018), „Un funambule“ (2018) und „Petit frère“ (2019).
Ein Krimi ist mehr als "Who’s done it"
Regisseur Ulrich Lampen im Gespräch mit Sarah Murrenhoff
Das Hörspiel "Die Ungeschickte" beruht auf einem wahren Fall und ist ein Grenzgänger in Bezug auf das Genre Krimi. Der Regisseur Ulrich Lampen erzählt, worauf es ihm beim Kriminalhörspiel ankommt.
Regisseur Ulrich Lampen bei Hörspielaufnahmen.© Deutschlandradio - Sandro Most
Deutschlandfunk Kultur: Herr Lampen, Ihr Kriminalhörspiel "Die Ungeschickte" beruht auf dem französischen Roman "La maladroite" von Alexandre Seurat. Dem Roman wiederum liegt ein wahrer Fall in Frankreich zugrunde, der als "Marina-Affäre" eine Mediendebatte um das Versagen staatlicher Institutionen auslöste. Wie gehen Sie bei einer derartigen Hörspielbearbeitung mit Fakt und Fiktion um?
Ulrich Lampen: Mein Material war der Roman. Ich habe das Material nicht ergänzt durch Zeitungsausschnitte. Von einer Romanvorlage zu einem Sendemanuskript zu einem Hörspiel sind verschiedene Stationen der Verdichtung zu durchlaufen. Wir wollten das, was der Roman schon geleistet hat, fortsetzen: Wir wollten die Geschichte loslösen von einer konkreten historischen Empörung oder einem konkreten historischen Ereignis und sie stattdessen auf eine strukturellere Ebene heben. Das halte ich für den richtigen Weg, wenn man den Übertritt macht in ein fiktionales Genre. Also, den Einzelfall auf seine Struktur zu befragen und diese Struktur mit den dramatischen, dramaturgischen, schauspielerischen und akustischen Mitteln, die wir in der Hand haben, zu erzählen.
Deutschlandfunk Kultur: Stichwort historisches Ereignis: Manche Hörerinnen und Hörer kennen womöglich den Fall Marina Sabatier und den Ausgang der Handlung. Bei "Die Ungeschickte" geht es jedoch weniger um die Suche nach einem Täter mit mehreren Verdächtigen als darum, dass der Hörer oder die Hörerin hineingezogen wird in einen Sog der Gewalt und des Entsetzens. Was macht "Die Ungeschickte" zu einem Krimi?
Ulrich Lampen: Zunächst einmal mag ich es grundsätzlich, wenn Genres nicht als Label funktionieren. Wenn man bei Krimi "Who’s done it?" erwartet, dann fängt man nur einen ganz kleinen Teil dessen ein, was Krimi sein kann. Und Krimi ist, wie viele andere Texte, wenn sie gut sind, eine gerichtete Reflektion der Wirklichkeit oder ein Effekt von Wirklichkeit in Literatur. Krimi ist nicht immer nur ein böser Täter, dem ein kettenrauchender, Whiskey trinkender Detektiv mit Assistent und schöner Freundin auf den Fersen ist. Sondern Krimi ist natürlich immer das, wo Handlung in ein Verbrechen umschlägt. Und das kann man dann in verschiedenster Form erzählen. Und ob man’s dann Thriller, Science Fiction, Krimi, Drama, Roman oder sonst irgendwas nennt, ist eine offene Frage. Ich halte es für vollkommen gerechtfertigt, "Die Ungeschickte" auf dem Krimi-Sendeplatz zu senden. In der Hoffnung, dass es den Hörer durch das Thema und durch die Erzählweise emotional nicht in die Position des Ermittelnden à la "Wer war’s denn? Hoffentlich krieg ich’s raus", sondern in die Position des Ohnmächtigen einbindet. Und das ist ja oft auch nicht sehr weit entfernt von der Position des Ermittelnden.
Deutschlandfunk Kultur: Oder von der Position der Aufarbeitenden. Erzählt wird das Hörspiel aus der Perspektive der teils ohnmächtigen, teils ermittelnden Beteiligten. Weder Diana, wie Marina im Hörspiel heißt, noch die "Täter" kommen in "Die Ungeschickte" direkt zu Wort. Andere Figuren erinnern sich an vergangene Dialoge und sprechen sie in ihren Gedanken nach. Warum haben Sie sich für diese besondere Erzählperspektive entschieden?
Ulrich Lampen: In unserem Stück haben wir keine direkten Äußerungen der – allergrößte Anführungszeichen – "Täter". Darin liegt das dramatische Potenzial des Krimis. Denn jeder Beteiligte, jeder Erzählende, überblickt notwendigerweise immer nur einen kleinen Ausschnitt der Geschehnisse: die Polizeibeamten zum Beispiel, die Diana befragen, sind mit ihr nur eine kleine Weile zusammen und müssen aufgrund ihrer Erfahrung, aufgrund des konkreten Falls, aufgrund der Aktenlage, aufgrund dessen, was sie jeweils wissen können, sondieren: Wie weit geht man? Häusliche Gewalt ist ein extrem wichtiges, aber auch ein extrem sensibles Thema. Und bevor sie nicht genügend Informationen haben, scheuen viele davor zurück, auszusprechen: "Dieses Kind wird misshandelt". So eine gewaltige These stark zu machen. Und an dem Punkt, an dem die Beobachtenden genügend Informationen haben, entziehen sich die "Täter" der Beobachtung. Sie entziehen sich des Zugriffs.
Die schrecklichen Ereignisse sind ein fast dynamischer Prozess von Annäherung und Entziehen, Ausweichen und Verschwinden. Nur von Seiten der "Täter" haben wir nichts: Ist es ein Reflex? Ist es eine Strategie? Ist es ein Affekt? Das wissen wir alles nicht. Und dieses Nicht-Wissen der Erzählenden macht es auf der anderen Seite, auf der Gegenseite der Beobachtenden und dann irgendwann Handelnden, so unbefriedigend und so schwer. Und so hilflos. Und so trostlos. Und so ohnmächtig.
Die Großmutter zum Beispiel spielt in der Hörspieladaption bestimmte Szenen kurz nach, reißt sie alleine an, hat eine gewisse Reflektionsebene in ihren eigenen Monologen und eine erzählerische Kompetenz in ihren erzählenden Teilen. Durch diese Erzählweise hoffen wir, die Leerstelle des Zugriffs – den Moment, in dem man schon Bescheid weiß, aber noch nicht handelt – stärker zu machen. Denn genau dieser emotionale, soziale, aktive, zeitliche Spalt ist der Spalt, in den Diana fällt.
Deutschlandfunk Kultur: Welche Fragen müssen im konkreten Fall – der "Marina-Affäre" – gestellt werden?
Ulrich Lampen: Da müssen natürlich noch ganz andere und viel schärfere Fragen gestellt werden. Also muss sich eine Verwaltung darüber klar werden: Reichen unsere Formen von Überwachung? Gleichzeitig muss sie sich fragen: Wie geht eine stärkere Überwachung mit dem Persönlichkeitsrecht und dem Freiheitsrecht eines jeden einher, was darf in der Erziehung stattfinden und was nicht? Ist die gifle, die Ohrfeige, noch ein anzuerkennendes Erziehungsmerkmal, wie sie es lange Zeit in Frankreich war? Oder muss sie gebannt werden? Aber da sind wir in einem ganz großen Kontext von Fragen und Diskussionen, denen ich das Stück betreffend nur bedingt gefolgt bin.
Deutschlandfunk Kultur: Inwiefern kann Fiktion Ihrer Meinung nach zu einem politischen oder gesellschaftlichen Diskurs beitragen?
Ulrich Lampen: Ich denke, das findet immer statt. Mir hat mal eine Schauspielerin, eine Theaterkollegin, gesagt, sie versteht sich und ihr Tun so, dass sie öffentliches Geld erhält, um öffentlich nachzudenken und mit schauspielerischen und dramatischen und dramaturgischen Mitteln. Und in ein solches Handeln gehört "Die Ungeschickte" natürlich mit hinein.
Das Interview für Deutschlandfunk Kultur führte Sarah Murrenhoff.