Hörspiel des Monats Dezember 2022
Ein Käfer, der Erinnerungen frisst
Von Sofie Neu und Fabian Raith
Regie: Sofie Neu und Fabian Raith
Mit: Bineta Hansen, Yoshii Riesen, Markus Hoffmann, Tina Pfurr, Charlie Triebel, Petra Hartung, Christine Jensen, Robert Frank, Matti Krause, Yara Blümel, Milena Arne Schedle, Julian Jäckel, Katharina Hoffmann und Konstantin Frank
Komposition: Martin Recker
Ton und Technik: Hermann Leppich und Sonja Maronde
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2022
Länge: ca. 55 '
Hörspiel des Monats Dezember 2022
Der Annamox-Käfer ernährt sich von Edelmetallen und seltenen Erden - also auch von digitalen Erinnerungen auf Servern. © rbb/ Bild erstellt durch Midjourney, unter CC-BY NC 4.0
Ein Käfer, der Erinnerungen frisst
55:01 Minuten
• Science Fiction • Mehrere Serverfarmen sind vom Annamox-Käfer befallen, die Daten aus der Terra-Cloud sind unwiederbringlich verloren – darunter alle Aufnahmen von Mikas verstorbener Mutter. „2035“ – Neun Zukunftshörspiele von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren.
Wie lange kann man sich an den Klang einer Stimme erinnern, nachdem die Person verstorben ist? Die Erinnerung an Mikas Mutter verblasst langsam, seit alle Aufnahmen gelöscht wurden. In dieser Folge begibt sich Mika auf einen alten Augmented Reality Walk zum Thema „Erinnerung“. Es fühlt sich für Mika ziemlich „retro“ an mit einem Tablet durch die Stadt zu laufen anstelle der üblichen Glasses. Aber Schulfreundinnen haben anscheinend etwas Wichtiges in diesem alten Walk entdeckt und Mika genötigt loszugehen. Der Walk ist aus dem Jahr 2022, Mika läuft damit im Jahr 2035 durch die Stadt: die Zeitschichten überlagern sich. Mika lässt sich zunehmend darauf ein, der Stimme im Walk zu folgen. Sie stellt immer wieder diese eine Frage: Wenn du wüsstest, dass morgen die Welt untergeht – würdest du heute noch einen Apfelbaum pflanzen? Zwischen öffentlichen Erinnerungsorten, digitalen Denkmälern und Begegnungen mit Passanten zeigt sich, wie sich der Blick in die Zukunft und der Blick in die Vergangenheit gegenseitig beeinflussen.
Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste hat "Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ zum Hörspiel des Monats Dezember 2022 gekürt.
Begründung der Jury:
Es ist das Jahr 2035: Mika, die zentrale Figur des Hörspiels „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ von Sofie Neu und Fabian Raith, begibt sich mithilfe eines veralteten ElektronikTools – einem Tablet – auf einen dem Jahr 2022 zugeordneten Augmented-Reality-Walk mit dem Titel „Hinterlassen“ durch ihre Stadt. Darin heißt es unter anderem in Bezug auf Denkmäler im Stadtraum: „Öffentliche Erinnerungen blicken zurück und prägen unseren Blick in die Gegenwart durch das Schöpfen aus der Vergangenheit – wie eine künstliche Intelligenz, die aus vergangenen Mustern zukünftige entwirft.“
Es ist das Jahr 2035: Mika, die zentrale Figur des Hörspiels „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ von Sofie Neu und Fabian Raith, begibt sich mithilfe eines veralteten ElektronikTools – einem Tablet – auf einen dem Jahr 2022 zugeordneten Augmented-Reality-Walk mit dem Titel „Hinterlassen“ durch ihre Stadt. Darin heißt es unter anderem in Bezug auf Denkmäler im Stadtraum: „Öffentliche Erinnerungen blicken zurück und prägen unseren Blick in die Gegenwart durch das Schöpfen aus der Vergangenheit – wie eine künstliche Intelligenz, die aus vergangenen Mustern zukünftige entwirft.“
In diesem Hörspiel geht es um Erinnerungen, um verloren gegangene Erinnerungen, um sich überlagernde Erinnerungen, um absichtlich verwischte Spuren, um vermeintlich auf ewig konservierte Erinnerungen von Nahestehenden, seien es Fotos, seien es Sprachnachrichten, seien es Texte. Vermeintlich ewig konservierbare Erinnerungen und Datensätze deswegen, weil eine neue Spezies, ein Käfer, der es auf Edelmetalle und seltene Erden abgesehen hat, sich durch Serverfarmen durchfrisst und somit zuvor auf Clouds gespeicherte Datensätze unbrauchbar macht bzw. gänzlich vernichtet. Die Idee ist ein kluger Schachzug der beiden Autor- und Regisseur.innen Sofie Neu und Fabian Raith: Trotz aller Technikgläubigkeit unserer Gegenwart und Heilsversprechen der Digitalisierung ist die Natur letztlich stärker.
Mika, von den Autor:innen als queere Person angelegt, hat die digitalen Erinnerungen ihrer verstorbenen Mutter durch das gefräßige Insekt verloren und kämpft nun mit dem Wiedererinnern von Episoden, die sie mit ihrer Mutter durchlebte. Mika versucht Szenen aus der Vergangenheit zu rekonstruieren, etwa den genauen Tonfall in der erinnerten Stimme der Mutter in Gedanken wieder herzustellen, wobei wir diese imaginären Erinnerungsversuche sowie alle Gedanken Mikas mithilfe der klassischen Hörspieltechnik des inneren Monologs erzählt bekommen. Dabei stellt Mika fest, wie wenig verlässlich Erinnerungen sein können. Am Ende des Tablet-Walk stößt Mika schließlich auf einen langen O-Ton der Mutter: eine letzte Spur, die der Vernichtung durch den Käfer – noch! – nicht anheimgefallen ist.
Das Hörspiel „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ überzeugt auf unterschiedliche Weise. Zum einen durch den Einfallsreichtum der Autor:innen beim Blick aus der Zukunft zurück in die Jetztzeit. So imaginieren sie Elemente einer durchaus möglichen zukünftigen Realität: z.B. urbane Kühlzonen, die die städtischen Bewohner:innen vor zu großer Hitze schützen sollen. Mika trifft auf Plastikfetischist:innen, die im Pazifischen Ozean auf einer Insel ganz aus Plastik leben. Mika wird durch ein K.I.-Gadget, das ihre Wahrnehmung schärfen soll, vermeintlich personalisierte Werbung eingespielt, wodurch sie ihr tägliches Datenvolumen umsonst bekommt. Dies sind allesamt keine wirklich schönen Aussichten auf die nahe Zukunft, aber durchaus vorstellbare, so dass das Stück unserer Gegenwart im Jahr 2022 nicht gänzlich enthoben wirkt.
Klanglich überzeugt das Stück nicht nur durch den Einsatz der Kunstkopftechnik, sondern durch die detailreiche Gestaltung des wabernden Klangteppichs, der mal für die Gedankenbewegungen von Mika steht, mal die technisierten Fressgeräusche des Käfers eindringlich zu Gehör bringt. Der Einsatz des Kunstkopfes ist auch nicht zuletzt eine logische Konsequenz dessen, dass die Hauptperson sich mit dem AR-Walk durch die Stadt bewegt, womit einerseits die Ausprägung von Räumlichkeit ein Thema des Stückes ist und andererseits mit der klassischen Hörsituation der heutigen Podcast-Generation gespielt wird. Besonders hervorzuheben ist schließlich die überzeugende Weise, in der Bineta Hansen die queere Figur Mika spricht und ihr einen klaren Charakter gibt, der das Stück trägt. Daher benennen wir „Ein Käfer, der Erinnerungen frisst“ zum Hörspiel des Monats Dezember 2022.
Fabian Raith, geboren 1987, ist Medienkünstler und experimentiert mit immersiven Theaterformaten. Studium in Erfurt, Frankfurt, Istanbul und Berlin. Er erforschte Popmusik als politisches Ausdrucksfeld und studierte zuletzt Spiel und Objekt an der Hochschule für Schauspiel Ernst Busch mit Schwerpunkt im Bereich Augmented und Virtual Reality.
Sofie Neu, geboren 1992, Studium der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft in Berlin und Wien. Zuletzt Dramaturgiestudium an der Hochschule für Schauspiel Ernst Busch und Dramaturgin für freie Theaterproduktionen. Im Moment begeistert von Figuren- und Objekttheater, Hörspiel, Sound-Walks, Audiodeskription und Gebärdensprache.