Erzählung über eine deutsch-israelische Beziehung

Facetten der Sprachlosigkeit

18:15 Minuten
Ein Mensch hat das Hemd über den Kopf gezogen und hält beide Hände seitlich am Kopf.
Eine Frau beschreibt, wie wichtig ihr der Dialog ist. Ein Plädoyer für das einander Zuhören und Fragen stellen. © Unsplash / Pawel Szvmanski
Von Ronja Helene Grabow |
Audio herunterladen
„Meine Mund ist trocken und ich spüre, wie der Boden, auf dem sich unser Gespräch bewegt, langsam dünner wird.“ Es ist die Erzählung einer Frau, die im Austausch mit ihren israelischen Freunden über Herkunft und Politik ihrer eigenen Sprachlosigkeit begegnet.
"Man kann das nicht verstehen, wenn man nie dort gelebt hat. Ihr seid hier doch in einer Blase der Sicherheit aufgewachsen".
Die Worte klingen in ihrem Kopf, als würden sie auf Stein fallen. Es folgt eine Stille, die jedes Geräusch verschluckt. Da ist sie wieder. Die Mauer, vor der sie so häufig steht, wenn sich das Gespräch in diese Richtung bewegt. Wenn es auf die Auseinandersetzung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt hinausläuft. Sie kennt diesen Punkt gut.
"Dort"... damit meint er Israel, seine Heimat. "Die Blase", so nennt er Deutschland, in dem ich in den späten achtziger Jahren aufgewachsen bin.
Ihre Unsicherheit gewinnt dann meist die Überhand, ihre Informationslage erscheint ihr dann bedenklich dünn – zu dünn, um mich in Anbetracht des mir entgegenschlagenden Unmuts weiter vorzutasten, Fragen zu stellen. Sein Argument schließt jede weitere Diskussion aus – bis hier hin und nicht weiter.
Wie spricht man über etwas, das man nicht versteht, … nicht in seinem ganzen Ausmaß überblicken kann? Wie nähert man sich einem Thema, dessen Komplexität man nicht durchdringt?
Es kommt ihr vor, als würden sich, je mehr sie liest und diskutiert, je mehr sie zuhört und erfährt, immer weitere Facetten auftun. Jede weitere Annäherung lässt das Thema nur vielschichtiger erscheinen. Es ist ein konstantes Ausloten, Abgleichen, Weiterdenken. Ein bisschen fühlt es sich an, als würde ich einen Berg besteigen.
Aus der Ferne scheint das Vorhaben überschaubar, doch schon die erste Etappe zeigt, wie sehr sie sich verschätzt hat. Umkehren ist keine Option.
Aus Angst, etwas Falsches zu sagen, sagt sie lange lieber nichts. Zunächst einmal Sicherheit, Perspektive gewinnen.
Wie komme ich in Dialog, wenn es kaum Bereitschaft gibt, darüber zu sprechen? ... Und wenn es mir selbst immer wieder die Sprache verschlägt?
Ihre erste Reise nach Israel. Kaum angekommen verstand sie, dass sie nichts verstand. "Kommst du mit? Treffen wir uns dort?" hatte mich eine Freundin gefragt... ich hab dann einfach spontan ja gesagt. Sie versucht sich das Land vorzustellen. Es gelingt ihr nicht. Sie hat keine Ahnung, wie es dort aussieht. Vage Bilder vielleicht. So als würde man etwas verschwommen sehen, nicht ganz scharf stellen können, alles eher düster. Berichte und Bilder aus den Nachrichten. Nah-Ost-Konflikt.
Völlig verrückt, wenn ich heute daran denke.
Sie erinnert sich an ihre Ankunft: "Warum reisen Sie nach Israel? Wo werden Sie sich aufhalten, wo werden sie wohnen, wie lautet die Anschrift? Was sind die Stationen ihrer Reise? Haben Sie Freunde oder Bekannte in diesem Land?"
12 Minuten dauert die Fahrt mit dem Zug vom Flughafen Ben Gurion nach Tel Aviv, HaHagana. Soldatinnen und Soldaten bewachen die Ausgänge, alle jünger als sie, vermutlich 18 Jahre, sie sehen fast noch aus wie Kinder ... alle mit Maschinengewehren.
"Natürlich, was denkst du denn" wird ihre Freundin später sagen, "wie soll das sonst funktionieren in einem Land, das von Feinden umgeben ist, die seine Existenz nicht anerkennen?" Kurz spürt sie ein unangenehmes Brennen im Gesicht –
Ich hatte noch nie wirklich darüber nachgedacht.
Sie verlässt die triste Hauptstraße mit ihren heruntergekommenen Fassaden, den Werkstätten und verblassenden Schildern der Shops. Restaurants und Cafés füllen die enger werdenden Gassen, dann ist sie mitten drin im Shuk HaPischpeschim – kleine bunte Läden, in denen die Händler des Flohmarkts ihre bis unter die Decke gestapelten Waren anbieten.
Weiter, immer weiter läuft sie, bis auf einmal alles nur noch Weite ist – vor ihr der Strand. Die weiße Stadt am Meer. Ihr schlägt der salzige Geruch entgegen, die Wellen brechen sich am Ufer. Der Himmel ist grau und verregnet, es ist noch früh im Februar – und auf einmal spüre ich diese Freude ... genau am richtigen Ort zu sein.
Im Hostel trifft sie ihre Freundin. Beim Frühstück am nächsten Morgen, scheint der Winter weit weg. Sie lassen sich treiben vom Beat der Stadt, reisen erst zwei Tage später weiter mit dem Zug Richtung Norden: Haifa, Akko, dann Safed, über Nazareth zurück nach Tel Aviv. Es folgen Tage in der Wüste, in Jerusalem, am Toten Meer.
Ich kann kaum glauben, dass dieses Land nur wenig größer ist als Hessen. Es ist der Blick einer Reisenden, sie bewegt sich frei. Der Anspannung, die israelische Freunde oft gespürt haben, wird sie sich erst viel später bewusst...
Ich weiß nicht, wie es ist, in einem Land aufzuwachsen, in dem immer wieder Krieg herrscht. Ich weiß nicht, wie es ist, in einem Land zu Leben, dessen Militär essentieller Bestandteil seines Alltags ist. Ich weiß nicht, wie es ist, immer alarmbereit, immer auf kleinste Details in meinem Umfeld zu achten, die verdächtig sein könnten... Ich weiß es nicht.
In Safed fällt der Regen senkrecht vom Himmel, es ist dunkel, kalt und nass.
Männer, alle in schwarzen Anzügen, weiße Gebetsfäden, die bis übers Knie reichen, an ihren Hosen, Schläfenlocke unter schwarzen Hüten – auf den Straßen begegnen sie an diesem Abend fast nur orthodoxen Juden. Die auf einem der höchsten Berge in Galiläa gelegene Stadt ist tiefreligiös.
Mit jeder Station ihrer Reise wird ihr klar, wie wenig sie von der Geschichte des Landes weiß. Ich stehe vor den Gedenktafeln, die von den gewaltsamen Auseinandersetzungen während des Unabhängigkeitskrieges 1948 berichten, davon, dass die arabische Bevölkerung daraufhin nahezu vollständig aus der Stadt floh. Wir laufen die Steintreppe hinab, die die Altstadt teilt. Sie trennte das jüdische vom arabischen Quartier.
Ich erinnere mich an diesen kleinen, unbedeutenden Moment, wir trinken Kardamomkaffee und essen Lachuch, es läuft israelische Musik über youtube. Ich versuche den Namen des Songs in der Playlist zu finden, der Laptop steht am Nebentisch, aber ich kann den hebräischen Titel nicht lesen. Ich versuche mir die Melodie zu merken. Jahre sind vergangen seit dieser ersten Reise.
Ich bin oft zurückgekehrt. Es gibt diesen Sog, den das Land auf mich ausübt, den ich nicht beschreiben kann.
Mir fehlen bis heute die Worte dafür. Es ist etwas, das tiefer geht. Wie eine leise Resonanz, von innen. Ich kann es mir selbst nicht ganz erklären.
Vielleicht gibt es eine Verbindung, eine gegenseitige Anziehung.
Es war an diesem Abend... es regnet so stark, dass ich in der kleinen Bar in Kreuzberg festsitze. Anstatt weiter zu ziehen, bleiben fast alle Gäste die ganze Nacht. Wir sitzen beide an der Bar, er hatte früher am Abend ein Date, ich bin eigentlich noch in einer Beziehung, die gerade auseinander bricht. Wir sprechen auf Englisch miteinander, ich glaube wir sind die letzten, man muss uns rausschmeißen. Draußen auf der Straße vertreibt die Dämmerung schon langsam die Nacht. Er ist der erste Israeli, den ich in Berlin kennen lerne. Lustig, so kurz nach dieser Reise...
Ich erinnere mich an den Song, den ich in Safed gehört hatte. Ich will wissen, ob er ihn kennt, summe ihn so gut es geht vor. Unser zwischenmenschliches Shazam funktioniert nicht. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich überhaupt noch in der Nähe der ursprünglichen Melodie bewege.
Die Beziehung hat ihre Auseinandersetzung mit Israel verstärkt.
Unser Zusammensein fühlt sich für mich selbstverständlich an... Nur eins ist fast immer schwierig: Sobald es um Politik geht, sind die Gespräche schnell zu Ende.
In einem Buchladen nicht weit von der ehemaligen jüdischen Mädchenschule in Berlin, fällt ihr Blick auf das Cover eines Buches: Sweet Occupation von Lizzie Doron. Eine jüdisch-israelische Autorin führt Gespräche mit palästinensischen und israelischen "Friedenskämpfern" und setzt sich in diesen mit der Politik im Nahen Osten, mit Israels Besatzungspolitik in palästinensischen Gebieten auseinander. Ein zufälliger Fund. Es ist ein Plädoyer für den Dialog. Was ich finde, ist eine israelische Perspektive: Doron spricht offen darüber, wie schwer es ihr fällt, sich auf diese Gespräche einzulassen... über ihre Befangenheit, über die eigenen Vorurteile. Sie stellt Fragen und stellt sich gleichzeitig den eigenen Fragen.
Es sind Gespräche, die in Israel oft Tabu sind. Die Bewegung der Combatants for Peace wurde von Israelis und Palästinensern gegründet, die sich gemeinsam in Form von gewaltlosem Widerstand für eine friedliche Lösung des Nah-Ost-Konflikts einsetzen. Auf beiden Seiten gelten sie vielen als Verräter oder Terroristen. Auf beiden Seiten stehen Menschen mit Sorgen und Ängsten, Menschen die Kinder und Angehörige verloren haben. Es ist eine Reflexion, die für Doron schwer auszuhalten ist, die sie immer wieder Überwindung kostet – sie selbst verlor geliebte Menschen durch palästinensische Attentate. Das zutiefst menschliche Bedürfnis, eine Heimat zu haben, die ein sicherer Ort ist, an dem man nicht verfolgt wird, trifft auf die Schwierigkeit Anzuerkennen, dass auf der Gegenseite auch Verlust, Verfolgung und Gewalt stehen. Es sind Wahrheiten, die bis heute provozieren. Ich suche online nach einer hebräischen Ausgabe des Buches und finde keine... ich möchte mich mit meinem Mann austauschen, hören, wie er darüber denkt.
Doron, selbst Tochter einer Überlebenden der Shoah, setzte sich in ihren Büchern häufig mit dem Holocaust und ihrer Familiengeschichte auseinander. Seitdem sie über den israelisch-palästinensischen Konflikt schreibt, werden ihre Bücher in Israel nicht mehr verlegt.
Der Dialog findet hier statt, nicht in Israel.
Manchmal scheint es ihr, als würden die Gespräche, die sie mit Freunden in diesem Kontext führt, aneinander anknüpfen, als würden sie sich fortsetzen, einen Teppich weben, aus den unterschiedlichen Aspekten dieser komplexen Auseinandersetzung, vielleicht etwas uneben aber doch immer irgendwie miteinander verbunden.
"Weißt du wie oft mich Leute fragen, wo ich wirklich herkomme?", fragt mich ein Freund, während wir an der Spree sitzen. "Wieso denkt eigentlich jeder, dass Israel sein fucking business ist?", fragt er mich, während er mit zusammen gekniffenen Augen aufs Wasser schaut. Ich warte, bis er weiter spricht. "Was ist denn mit dem Rest, der in der Welt gerade passiert? Mit den Katastrophen, korrupten Regierungen, Kriegen und Verletzungen von Menschenrechten?
Es ist die Art des Gesprächs, die ihn stört. Das habe nichts mit wirklichem Interesse zu tun. "Ich war mit denen ja nicht in einem super Gespräch, das sich dann in diese Richtung entwickelt hat", sagt er zu ihr und fügt hinzu, "es ist als ob mir jemand erzählt, er oder sie komme aus Italien und ich dann sofort sage: Oh, na klar, Pizza! Übrigens, die sollte man besser in der Pfanne backen."
Während sie zwischen den Menschen am Ufer entlang schlendern, fragt er, was sie gerade liest. Sie erzählt ihm von Lizzie Doron. Von ihrem Wunsch mit jemandem aus Israel darüber zu sprechen.
"Leih mir das Buch, ich lese es und spreche mit dir darüber", sagt er.
Ich erinnere mich an unser Gespräch, als er mich wenige Wochen später zuhause besucht. Suche das Buch raus und lege es auf den Esstisch.
Aber er sagte nur: "Nein. Danke, aber nein danke."
Zurück in Israel fährt sie mit ihrem Mann im Auto durch die größte Wüstenstadt des Landes. Er erzählt ihr von der Geschichte der Stadt. Die Bilder, die am Fenster vorbeiziehen mischen sich mit Erzählungen aus seiner Kindheit.
Er erzählt mir von der Vertreibung der Araber, der Wiederbesiedelung der Stadt durch jüdische Immigranten. Ich erinnere mich an dieses Gespräch und kann es doch nicht mehr genau rekonstruieren. Kam er wirklich von sich aus darauf zu sprechen? Ich recherchiere die Geschichte der Stadt online und bin verunsichert.
Was sich in aller Klarheit in mein Gedächtnis gebrannt hat, ist ein seltener Moment, in dem es fast zu einem Dialog zwischen uns kommt.
"Wie siehst du das?", frage ich ihn, leise. Und schon die vorsichtige Frage fällt mir schwer.
Er antwortet nicht, ich sehe, dass es ihn beschäftigt.
Woher kommt diese Befangenheit? Wieso habe ich auf einmal Angst, etwas Falsches zu sagen? Wie kann der Wunsch nach Austausch so schnell dazu führen, dass es sich anfühlt, als würde man etwas oder jemanden angreifen?
Es ist ein ambivalentes Verhältnis: Die Dead-End Argumente, die jede weitere Diskussion unmöglich machen, treffen auf ihre Sorge, sie könnte missverstanden werden, ihre Fragen könnten so aufgefasst werden, als würde sie das Existenzrecht Israels in Frage stellen.
Meine Mund ist trocken und ich spüre, wie der Boden auf dem sich unser Gespräch bewegt, langsam dünner wird. Die Sensibilität des Themas breitet sich wie eine dichte Masse zwischen uns aus.
Ihr Gespräch streift den Gründungskonflikt des Landes – was von jüdischen Israelis als Geburt ihres Staates gefeiert wird, gilt vielen Palästinensern als Nakba – Katastrophe. Während die Juden zum ersten Mal im eigenen Staat leben, wenn auch ständig von Krieg bedroht, bedeuteten die Kämpfen um Israels Unabhängigkeit für viele Araber Flucht und Vertreibung.
Die Gründung eines eigenen Staates sollte ein Friedensschluss sein, Verfolgung und Diskriminierung ein Ende bereiten. Doch es war Krieg. Menschen, die vor Gewalt, Vertreibung, Enteignung und Vernichtung flüchteten, kommen endlich an einen Ort, der die neue Heimat werden soll, an dem sie Schutz und Sicherheit finden sollen und wieder bedeutet das für andere Menschen, das Verlassen ihrer Häuser, ihrer Heimat.
Ich spüre deutlich eine Grenze und stoppe. Es liegt ein Tabu auf vielen Aspekten dieses Gesprächs.
Ich will meine Befangenheit abstreifen, seine Meinung hören. Ich will Wissenslücken füllen. Doch... "Darf ich diese Fragen stellen? Was berechtigt mich dazu, darüber zu sprechen? Steht es mir als Deutsche zu, die Schattenseiten im Gespräch zu berühren?"
Die Vergangenheit sitzt mit uns im Auto. Unsere Geschichten sind unmittelbar durch die Generation unserer Großeltern miteinander verbunden, bedingen sich. Auf meiner Seite steht das Erbe einer Generation, dessen Schuld nie vergessen werden darf, deren Terror und Verbrechen die größte vorstaatliche Einwanderungswelle Israels auslöste. Auf seiner Seite stehen die Familien seiner Großeltern, die eben dieser Alija angehörten – zumindest diejenigen, denen es rechtzeitig gelang, zu fliehen.
Was sind die Fragen die ich selbst nie gestellt habe? Wie gut kenne ich den Hintergrund, das Erbe meiner eigenen Familie? Es ist zu spät, für Fragen an die Personen, denen ich sie gerne gestellt hätte: Meine Großeltern sind längst tot.
Es beginnt eine Suche, ein Versuch der Rekonstruktion in Gesprächen mit den Eltern. An deren Ende die Erkenntnis steht, dass eine Aufarbeitung, eine Auseinandersetzung bei ihren Großeltern nie stattgefunden hat.
Die Erinnerungen meiner Mutter an meine Urgroßeltern sind Erinnerungen an ihr Schweigen. Der Urgroßvater kehrte nach dem ersten Weltkrieg erst spät aus französischer Gefangenschaft zurück. So wie er bei ihnen wohnte, habe er gleichzeitig in seinem Schweigen gewohnt.
Er habe es auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gebrochen. ... Vielleicht wollten die Frauen es auch nicht hören, ihm nicht zuhören. Sie stellten ihm keine Fragen, während sie – immer beschäftigt, immer etwas zu tun – in der Küche schafften. Der Urgroßvater saß dabei, ohne anwesend zu sein. Stumm, teilnahmslos, in sich gekehrt, immer die Zeitung vor sich auf dem Tisch, so beschreibt meine Mutter die wortlosen Küchenszenen im Haus der Urgroßeltern.
Aber was ist mit Großmutter, mit deiner Mutter?, frage ich sie.
außen:

Die Geschichte ihrer Großmutter während des Krieges ist ebenfalls eine Geschichte der Flucht, es sind die wenigen Erlebnisse, die sie mit ihnen teilte. Sie war selbst fast noch ein Kind als der Krieg begann. Die Familie wurde mehrfach ausgebombt, sie zogen quer durch Deutschland, suchten Unterschlupf bei Bekannten und Verwandten.
Wäre es da nicht leichter gewesen, sich später davon zu distanzieren?, frage ich meine Mutter. 
"Du musst verstehen", erzählt die Mutter weiter, "dass ihre ganze Sprache geprägt war von einer Naziterminologie, die sie als Kind aufnahm, da sie allgegenwärtig war. Sie verstand meine Scham nicht, wenn sie von ihrer Zeit im Jungmädelbund erzählte, das war für sie einfach ein Teil ihrer Kindheit." 
Vielleicht war es gerade deshalb noch schwerer, die Dinge wieder loszuwerden.
George Steiner schreibt 1969: "Es gibt Realitäten, die zu groß sind für Hass oder Vergebung: Nur eins darf man nicht zulassen: das Vergessen." Dialog zwischen Deutschen und Juden ist für ihn zu diesem Zeitpunkt noch ein leichtfertiger Ausdruck, viel zu früh sei es dafür. "Vielleicht", so schreibt er weiter, "sollten Juden und Deutsche nicht miteinander sprechen, sondern jeder mit sich selbst, so klar und unerbittlich wie möglich. Dann wird der andere zuhören. Und in diesem Hinhören ereignet sich vielleicht aufs neue das Wunder eines lebendigen Echos."
Nichts ist statisch. Alles ist Bewegung. Auch wenn es unveränderlich scheint.
Die Zeitzeugen werden immer weniger, in ein paar Jahren wird niemand mehr leben, der Zeugnis von diesem dunklen Abschnitt in unserer gemeinsamen Geschichte ablegen kann... Vielleicht ist es also gerade jetzt umso wichtiger, miteinander zu sprechen?
Auch wenn sich deutsch-israelische (Paar-)Beziehungen heute wieder selbstverständlich anfühlen können, zeigt sich vielleicht auch in der Schwierigkeit über bestimmte Dinge zu sprechen, wie frisch und verletzlich diese Normalität manchmal noch ist.
Der Blick auf unsere geteilte Geschichte, die Generation unserer Großeltern zeigt, dass es diese Normalität noch nicht lange gibt. Es zeigt, wie viel sich in wenigen Jahrzehnten verändern kann. Vielleicht geht es darum, wie ich Fragen stelle... darum, weiter den Dialog zu suchen. Und um ein Aushalten der Momente der Befangenheit.

Facetten der Sprachlosigkeit
Eine Erzählung von Ronja Helene Grabow
Mit: Sylvana Seddig
Musik: Florentin Berger-Monit und Johannes Wernicke
Regie: Henri Hüster
Deutschlandfunk Kultur 2021
Länge: 18'15