Theater mit Suchtfaktor
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Früher konsumierten sie Alkohol, Cannabis oder Koks. Heute spielen sie Theater: Die Darstellerinnen und Darsteller der „Wilden Bühne“ haben ihre Ersatzdroge auf der Bühne gefunden. In ihren Stücken thematisieren sie die Folgen von Abhängigkeit, Isolation und Gewalt. Doch die Pandemie stellt sie auf eine harte Probe.
Der Alkohol begleitet Rita schon ihr Leben lang. Es begann als sie noch ein Kind war und ihre erste Stiefmutter alkoholabhängig. Später trennte sich ihr Vater, aber auch die neue Ehefrau war suchtkrank. Als Rita ihren ersten Mann kennenlernte, sie mehr und mehr zu trinken begann und er Cannabis, LSD und Koks mit nach Hause brachte, war ihr Drang zu trinken so stark, dass sie sogar die Sparschweine ihrer Kinder dafür plünderte. "Wo kriege ich das Geld her? Wo kriege ich den Sprit her? Wie entsorge ich das Leergut, ohne dass das auffällt?", das waren die Fragen, die Rita jahrelang beschäftigten.
Heute, knapp 30 Jahre später, ist Rita trocken. Ihr Entschluss, zu einer Sitzung der Anonymen Alkoholiker zu gehen, einen Entzug und eine Therapie zu machen, hat alles geändert. Ihr altes Leben hat sie hinter sich gelassen, zu ihren Kindern hat sie wieder ein gutes Verhältnis. Keine Drogen zu konsumieren und Halt in einem stabilen Sozialgefüge zu finden, dabei hilft ihr auch die "Wilde Bühne" in Bremen, ein Theater für suchtkranke Menschen.
Nicht jeder der kommt, bleibt auch
Die Theaterpädagoginnen Jana Köckeritz und Michaela Uhlemann-Lantow haben die "Wilde Bühne" 2003 gegründet. In den Stücken, die das etwa 15-köpfige Ensemble spielt, geht es um Drogenmissbrauch, Gewalt und Lebenskrisen, aber auch um Neuanfänge, Perspektiven und die Freude am Leben. Dahinter steht die Idee, zum einen den Suchtkranken selbst zu helfen, aber gleichzeitig auch Präventionsarbeit mit dem meist jugendlichen Publikum zu leisten. Die Therapie kann das Theater aber nicht ersetzen, betont Jana Köckeritz: "Wir machen Theater. Und das hat glaube ich sehr positive Auswirkungen und wir haben auch ein Vertrauensverhältnis, aber wir machen hier keine Therapie und wir machen ja auch eigentlich nicht Selbsthilfe und trotzdem hat es einen therapeutischen Effekt."
Die Aufnahmebedingung für neue Spielerinnen und Spieler: Sie müssen clean sein, dürfen aktuell keine Drogen konsumieren. "Nicht jeder, der hier aufgenommen wird, bleibt", sagt Regisseurin Jana Köckeritz. Gerade im vergangenen Jahr hat das Ensemble viele Rückschläge erleben müssen. Durch die Pandemie waren Proben vor Ort lange Zeit nicht möglich, die soziale Isolation führte dazu, dass einige Darsteller und Darstellerinnen rückfällig wurden.
Denn die Vorstellungen vor Menschen und die häufig anschließenden Publikumsgespräche, bei denen die Schauspielerinnen und -spieler auch ganz persönliche Geschichten teilen, sind es, aus denen viele hier besonders viel Kraft schöpfen. "Und wenn sie das nicht mehr machen können, wenn sie keine Menschen mehr haben, denen sie erzählen können wie schwer dieser Weg ist, nicht zu konsumieren, dann fehlt die Kraft dran zu bleiben", beschreibt Pablo Keller, der seit 2017 ebenfalls zum Leitungsteam der "Wilden Bühne" gehört.
Parallelen zwischen der Rolle und der eigenen Geschichte
Doch zum Glück darf wieder geprobt werden. Gerade steht das Stück "Blau" auf dem Programm. Darin geht es um die 12-jährige Marla, die in eher armen Verhältnissen groß wird und deren alleinerziehende Mutter Alkoholikerin ist. In der Schule wird Marla gemobbt, sie selbst weiß weder sich noch ihrer Mutter zu helfen. Eine Situation, die auch Kathi bekannt vorkommt, die jahrelang drogenabhängig war. "Was ich kenne, ist der Versuch die Mutter zu beschützen. Und vielleicht sogar zu retten, zu trösten, irgendwas zu tun. Aber es nicht zu können", beschreibt sie die Parallelen zwischen der Hauptrolle, die sie spielt, und ihrer eigenen Geschichte.
Kathi freut sich auf die Vorstellung und die Chance auf der Bühne stehen zu dürfen. Auch wenn sie weiß, dass bei dieser Premiere noch kein Publikum dabei sein wird. Damit dennoch ein Vorstellungs-Gefühl aufkommt, ist die komplette Ton- und Lichttechnik aufgebaut und auf den Stuhlreihen sitzen Kuscheltiere, die die Darstellerinnen mitgebracht haben.
Als die Premiere vorbei ist bittet Rita die Theaterleitung auf die Bühne, um noch ein paar Worte an die drei zu richten: "Das war so ein verrücktes, hartes Jahr für jeden von uns. Und nach dem ersten Lockdown habe ich gedacht: Wenn wir nicht mehr das tun können, wofür wir eigentlich da sind, dann bricht alles auseinander. Das war meine Angst. Und ihr habt uns wieder zusammengetrommelt. Ihr habt gesagt: Komm, wir machen weiter. Nicht aufgeben. Wir haben noch eine Aufgabe zu erfüllen. Und ja: Ihr seid einfach ein sicherer Hafen für uns."
Eine "rationale Drogenpolitik" wäre sinnvoller
Der Psychologe und Suchtforscher Michael Klein beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Präventionsarbeit, Therapieformen und der Stigmatisierung von Suchterkrankten. Und auch wenn Deutschland im europäischen Vergleich sehr viele Suchtkranke aufweist, so seien doch immerhin die Suchttherapien recht erfolgreich. Etwa 60 Prozent der alkoholerkrankten Menschen schafften es, auch noch ein Jahr nach einer Therapie abstinent zu leben. Bei anderen Drogen läge der Wert bei 25 bis 30 Prozent. Kritischer sieht Klein die Präventionsarbeit: In Deutschland setze man durch die Kriminalisierung bestimmter Drogen vor allen Dingen auf ein Bestrafungsmodell. Das helfe aber nur bei besonders riskanten Substanzen. Bei weitverbreiteten Drogen wie Cannabis sei vor allem die Kontrolle der Produktion oder die Verringerung des Drogenkonsums durch eine hohe Bepreisung und Besteuerung zielführend. "Wir nennen das dann "rationale Drogenpolitik"", erklärt Klein. Andere Länder seien dabei deutlich weiter, ergänzt er und formuliert einen einfachen wie klaren Wunsch für gelungene Präventionsarbeit: "Suchtprävention hat die Aufgabe, den Menschen zu helfen, dass sie nie suchtkrank werden, dass sie vielleicht auch lernen genussvoll zu konsumieren. Auch wer genussvoll konsumiert, ist eigentlich gut gegen Sucht geschützt."