Hörspiel des Monats November 2022

Faust (hab' ich nie gelesen)

Hörspielkomödie über Goethes "Faust" und die Mühen des Deutschwerdens. Zu sehen: Stilleben mit Büchern, Glaskugel, Tarotkarten, Goethe-Büste, das Buch "Faust" und einer Plastikhand zu einer Faust geballt.
Hörspielkomödie über Goethes "Faust" und die Mühen des Deutschwerdens. © imago/imageBROKER/Helmut Hess
Von Noam Brusilovsky |
Für die Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft benötigt der in Israel geborene Hörspielmacher Noam Brusilovsky eine Bestätigung seines Arbeitgebers - des ÖRR - über seine vorangeschrittene Integration in Deutschland. Im Gegenzug soll Brusilovsky Goethes „Faust“ als Hörspiel inszenieren.
Den hat er allerdings nie gelesen - was die prominente Besetzung auf keinen Fall merken darf! So lässt sich der „Regisseur wider Willen” den „Faust“ von Passanten erzählen und von verschiedensten Expertinnen erklären und überlegt sich, welche bisherigen Regieideen er für seinen „Faust“ klauen könnte.
„Wem gehört der ‚Faust‘ und wer darf ihn inszenieren? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt meines neuen Hörspiels. Ich habe ihn tatsächlich nicht gelesen und werde es bis zur Sendung auch nicht tun. Denn in dieser Arbeit beschäftige ich mich mit dem Nichtlesen dieses identitätsstiftenden Werks. Obwohl ich ständig versuche, mich dagegen zu wehren, scheint das Deutschwerden nach so vielen Jahren hier ein unvermeidbarer, schleichender Prozess zu sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf vorbereitet bin und habe deshalb Angst, dass die Lektüre des ‚Faust‘ diesen Prozess nur beschleunigen würde.“ (Noam Brusilovsky)
Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main hat das Hörspiel "Faust (hab' ich nie gelesen)" zum Hörspiel des Monats November 2022 gekürt.
Begründung der Jury:
In seinem autofiktionalen Hörspiel „Faust (hab’ ich nie gelesen)” schließt Noam Brusilovsky einen Pakt mit dem Teufel: Der Regisseur ist in Israel als Sohn argentinischer Eltern, deren Vorfahren osteuropäische Juden waren, geboren und kam 2012 zum Studium der Schauspielregie nach Berlin. Seit zehn Jahren lebt und arbeitet er nun schon in Deutschland und möchte darum auch die deutsche Staatsbürgerschaft und einen EU-Pass beantragen. Für die Antragsunterlagen benötigt er eine Bestätigung von seinem Arbeitgeber, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass seine Arbeit einen wertvollen Beitrag zur deutschen Kultur und Gesellschaft leistet. Eine Hörspiel-Redakteurin ist bereit, ihm solch eine Bestätigung zu schreiben, wenn er dafür die neueste „Faust“-Hörspielinszenierung eines gerade verstorbenen Kollegen kurzfristig übernimmt. Die Produktion mit hochkarätiger Besetzung soll schon in wenigen Tagen beginnen. Obwohl er den „Faust“ - aus vielen, komplexen und guten Gründen - nie gelesen hat, lässt Brusilovsky sich auf den Deal ein: Der Pakt „Deutsche Staatsbürgerschaft gegen „Faust“-Inszenierung“ ist geschlossen.
[...]
In „Faust (hab’ ich nie gelesen)” gelingt Noam Brusilovsky eine Art Meta-Inszenierung, die über die Thematisierung des Nicht-Lesens so viel mehr über das Stück und dessen Bedeutung zu erzählen vermag, als es mit einer klassischen Inszenierung möglich gewesen wäre. Das Hörspiel bietet über verschiedenste, kontrastierende Ebenen einen so humorvollen wie spannenden und zugleich politisch brisanten Zugang zu diesem Klassiker der Weltliteratur, der weit über das Stück hinausweist. Für diese beeindruckende Leistung verleiht die Jury Noam Brusilovskys „Faust (hab’ ich nie gelesen)” den Preis für das Hörspiel des Monats November 2022 

Faust (hab' ich nie gelesen)
Von Noam Brusilovsky
Regie: der Autor
Mit Itay Tiran, Bibiana Beglau, Walter Kreye, Anika Mauer, Almut Henkel, Noam Brusilovsky, u.a.
Komposition: Tobias Purfürst
Von und Technik: Christian Eickhoff, Tanja Hiesch, Nikolaus Löwe und Venke Decker
Produktion: SWR/Dlf 2022
Länge: 74'33

Anschließend:
Hauptsache Hörspiel
von Hanna Steger, Max von Malotki

Noam Brusilovsky, geboren 1989, studierte Schauspiel und Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und arbeitet als Theater- und Hörspielmacher. Seine Hörspiele „Broken German” (SWR) und „Adolf Eichmann: Ein Hörprozess” (rbb/Deutschlandfunk) erhielten den Deutschen Hörspielpreis der ARD, seine gemeinsame Arbeit mit der Sängerin Lucia Lucas „Die Arbeit an der Rolle” (SWR) wurde mit dem 71. Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Für den Deutschlandfunk inszenierte er auch die Produktionen „Woran man einen Juden erkennen kann” (2016) und „Der Tod des Iwan Iljitsch/Sterben in Bern” (2019).

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