Gastkritik

Die Hörspiel-Premieren im Mai

15:28 Minuten
"Sodom und Gomorrha", von Marcel Proust, Komposition Hermann Kretzschmar, Regie Iris Drögekamp. Michael Rotschopf. © SWR/Monika Maier, honorarfrei - Verwendung gemäß der AGB im engen inhaltlichen, redaktionellen Zusammenhang mit genannter SWR-Sendung und bei Nennung "Bild: SWR/Monika Maier" (S2). SWR-Presse/Fotoredaktion, Baden-Baden, Tel: 07221/929-22453, Fax: -929-22059, foto@swr.de
In Prousts "Die Gefangene" als Erzähler zu hören: Michael Rotschopf © SWR-Pressestelle/Fotoredaktion
Von Angela Ciriaco-Sussdorff |
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Angela Ciriaco-Sussdorff hat die Hörspielpremieren im Monat Mai gesichtet; wenn auch die Auswahl wegen der aktuellen Situation quantitativ eingeschränkt war, die Qualität der Stücke hat in keiner Weise gelitten und die Archive haben nun ihren großen Auftritt.

Die Stunde der Archive

Die Auswahl aus den Ursendungen der Hörspielabteilungen der ARD ist für diese Gastkritik etwas eingeschränkt. Aufgrund der aktuellen Situation konnte eine Reihe von Neuproduktionen nicht fertiggestellt werden. Überwiegend mussten sie abgebrochen werden, weil Schauspieler und andere Mitwirkende nicht zum Aufnahmeort reisen bzw. die Studios nicht betreten konnten. Was bleibt, sind bis auf weiteres weniger Neuproduktionen und: es schlägt die Stunde der Archive. Dass dort, bei allen Sendern, Schätze lagern, wissen Fachleute seit Jahrzehnten. Immer weniger wird jedoch davon Gebrauch gemacht. "Archiv" hat den Geruch des Altfränkischen und "Abgekoppelten". Auf die wichtigsten Werke trifft dies allerdings nicht zu. Doch mehr dazu später.
Beginnen möchte ich mit der Vorstellung einer literarisch äußerst ambitionierten Koproduktion von Südwestfunk und Deutschlandfunk. Grundlage ist ein weniger bekannter, wenngleich umfangreicher Roman aus Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", den Manfred Hess und Herrmann Kretschmar bearbeitet haben: "Die Gefangene" - "La Prisonniere"!

Ein großes Werk

Wer in schnelllebiger Zeit die Geduld aufbringt, sich auf über drei Stunden akustische Unterhaltung – in drei Teilen auf höchstem Niveau - einzulassen, wird nicht enttäuscht werden. Er bekommt ein großes Werk zu hören: Weitschweifende Gedankenströme, ondulierende Gefühle, ein einziges Mäandrieren unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen – das alles ist eingebunden in den Antagonismus von Herr und Knecht, Wärter und Gefangene - die ewige Frage: wer ist wer? Ist es Albertine, kokett aber nicht unbedingt Kokotte – oder doch? Und ist der Erzähler Marcel ihr Liebster oder ihr Opfer? Dem Hörer zeigt sich ein Zerrbild von Liebe, das sich vor dem Dekor von Salons und Etablissements des Fin-de-siècle auftut. Die Welt der Neureichen und ein wenig auch die des verarmten Adels spinnt das Netz, in dem Prousts Figuren sich verfangen. Mit seiner meisterlich dargestellten Menschenkenntnis erinnert er von weitem an Sigmund Freud.
Hinsichtlich der menschlichen Irrungen ist es dem seismischen Genie dieses Autors zu verdanken, dass sich dem immer gebannter Zuhörenden eine disparate Welt zeigt, die letztlich nur durch die außergewöhnliche Kraft der Sprache geordnet werden kann. Die Komposition von Hermann Kretschmar und die Regie von Iris Drögekamp – in den musikalischen Episoden in Zusammenarbeit mit dem Komponisten – führen den Hörer in eine verdämmernde Welt. Die musikalische Akzentuierung nimmt keine Anleihe etwa bei Offenbach`schem Schmelz. Sie sucht nach einem eigenen, unverschnörkelten und damit eher zeitlosen Melos.

Ausschnitt "Die Gefangene"

Mit Michael Rothschopf als Erzähler und Protagonist sowie Lilith Stangenberg als Mademoiselle Albertine wurden - neben vielen anderen Mitwirkenden - zwei Schauspieler engagiert, die ihren Stimmen Sinnlichkeit und Körper zu geben vermögen.
Lilith Stangenberg, mit aufregendem Timbre als Albertine, ist eine noch junge Darstellerin, die mit Sicherheit ihren erfolgreichen Weg gehen wird. Alles in Allem: "Die Gefangene" ist ein literarischer, akustischer Genuss, der anspruchsvolle Spielpläne noch lange Zeit bereichern kann.
"Die Gefangene" von Marcel Proust wird am 14. und 28. Mai sowie am 4. Juni vom SWR ausgestrahlt und zwar jeweils ab 22.30 Uhr. Der Deutschlandfunk sendet das Hörspiel im August.

Eine irrwitzige und spannende Konstellation

Originalhörspiele haben zurzeit nicht gerade Hochkonjunktur. Das hat viele Gründe, und der Corona-Effekt trägt seinen Teil dazu bei. Umso erfreulicher, dass der Norddeutsche Rundfunk die Produktion von Angelika Voigts neuestem Hörspiel "Ortswechsel. Und kein Bär in Sicht" gerade noch rechtzeitig vor Beginn der Schutzmaßnahmen beenden konnte.
Angelika Voigt hat schon als ganz junge Autorin zahlreiche Kinder- und Jugendhörspiele geschrieben und später auch Fernsehfeatures gemacht. Nach einem Psychologiestudium nahm sie ihre literarische Hörspielarbeit wieder auf.
Mit ihrem neuesten Stück "Ortswechsel" zeigt sie in einer Familienaufstellung eine ziemlich irrwitzige und spannende Konstellation zweier mitteljunger Paare. Die Dichte der Konstruktion erinnert an Kammerspiele der Nachkriegszeit (Sartre etwa, Pinter und später Beckett). Der Handlungsort – die menschenleere Weite Alaskas – bietet sich hier als idealer Hintergrund eines Psychogramms an.

Ausschnitt: "Ortswechsel und kein Bär in Sicht"

Gutverdienend, in anscheinend intakten Ehen lebend, sind die beiden Paare auf der Suche nach Reiseerlebnissen, mit denen man im Freundes- und Kollegenkreis ordentlich angeben kann. Mit dem Helikopter nach Alaska, Leben in Frost bei reduzierter Nahrung. Also was für harte Männer und Frauen, die einen Grizzly so ganz aus der Nähe sehr anturnend finden und in ihm das teuer bezahlte Highlight eines Event-Trips der Luxusklasse sehen. Aber so soll es nicht kommen:
Der Kälte und der zur Schau getragenen Coolness zum Trotz lodern zwischen den Paaren die Konflikte, die Männer zeigen Machtkämpfe. Und der Grizzlybär bleibt aus. Jetzt erweist sich, dass der Verzicht auf Handys und andere Ortungsgeräte ein Fehler war. Ausharren ist angesagt. Von Ferne hört man einen Helikopter. Aber er dreht bei. Einer der beiden Männer macht sich angeblich auf die Suche nach dem Tourenführer, der noch nicht - wie verabredet – aufgetaucht ist. Die Situation wird immer beklemmender, man fühlt sich mit den immer furchtsameren Abenteuerfeiglingen festgefroren, bis die Rettung in letzter Minute naht, aber damit gleichzeitig die allergrößte Gefahr: eine brasilianische Firma auf der Suche nach seltenen Erden, illegal durch und durch, hatte in einem der beiden Männer einen Geologen gefunden, der bereit war, ein solches ausbeutbares Gebiet zu finden – und zwar unter dem Deckmantel einer Abenteuerreise. Was mit ihm zum Schluss passiert, lässt das Stück nur erahnen.…
Regisseur Alexander Schuhmacher gibt der Inszenierung Schwung und greift die Binnenspannung des Textes geschickt auf. Die Besetzung ist routiniert, die Geräuschkulisse hat authentisches Flair – die Musik könnte ein bisschen weniger Countrysound haben. Alles in allem ist eine kurzweilige, spannende Produktion mit Repertoirecharakter entstanden.
"Ortswechsel und kein Bär in Sicht" läuft am 24. Mai 2020 von 21.05 bis 21.50 auf NDR Kultur.

Ein Hörspiel der Extraklasse

Die derzeitig unüberschaubare Situation schlägt sich, wie bereits erwähnt, auch in der Radioarbeit nieder. Das bringt auch Spielpläne durcheinander – aber: es schlägt die Stunde der Archive. Ein Hörspiel der Extraklasse aus den späten Vierziger Jahren wird am Sonntag, dem 10. Mai um 18 Uhr 30 bei Deutschlandfunk Kultur gesendet. Es ist eines der frühen Werke von Bertolt Brecht und wurde in der vorliegenden Form nach Kriegsende geschrieben.
Die Entstehungsgeschichte ist ebenso zeittypisch wie abenteuerlich. Brecht wollte nämlich seine Idee vom "Verhör des Lukullus" – wie der Titel lautet – zunächst unter allen Umständen auf die Opernbühne bringen. Dazu nahm er Kontakt zu den berühmten Komponisten seiner Zeit auf, darunter Paul Dessau und Igor Strawinski.
Durch die Wirren des Zweiten Weltkrieges und des Exils kam diese Umsetzung nicht zustande. Brecht legte nun seinen Text dem Schweizerischen Sender Beromünster vor, der ihn auch produzierte. Diese Fassung schien dem Autor nicht gefallen zu haben, denn wenige Jahre nach Kriegsende bot er ihn dem Bayerischen Rundfunk an, der ihn erneut produzierte. Am 27. April 1949 war die Ursendung. Ein heute ungewohntes, aber durch und durch bezwingendes Klangbild zeigt sich dem Hörer gleich zu Beginn:

Ausschnitt "Verhör des Lukullus"

Lukullus, der große Feldherr, den wir heute nur noch als Namenspatron üppiger Schlemmereien kennen, stand bei Brecht für die Vergänglichkeit der Macht, die den Herrschenden und scheinbar Unbezwinglichen in einen unrühmlichen Tod stürzte. Brecht bediente sich dafür eines Mittels, das er in seinen Theaterstücken immer wieder einsetzte: das Mittel des Chores. Ein antikes und antikisierendes Element, das effektvoll die Stimme des Volkes verkörpert. Das Schicksal dieses Lukullus ergreift den Hörer nicht als bemitleidenswertes Einzelschicksal, sondern dient vielmehr – wie fast immer bei Brecht – einem versteckt didaktischen und offen politischen Zweck.
Die Funkbearbeitung und Regie stammt von Harald Braun, der für diese Produktion eine Vielzahl damals sehr bekannter Schauspieler besetzen konnte. Die Städte waren damals – 1949 – oft noch stark zerstört, die Theater zerbombt. Schauspieler mussten neue Wirkungsfelder suchen und fanden sie zumeist im Rundfunk. So begegnen wir hier - neben vielen anderen - den Stimmen von Lina Carstens, Hans Nielsen, Paul Dahlke, Bum Krüger und der erst zwanzigjährigen Gertrud Kückelmann. Sie spricht die Rolle der jungen Königin, die vor den Schöffen des Gerichts der Schatten berichtet, wie 50 Soldaten des Lukullus sie "besiegten", einer nach dem Anderen, um ihren Mann, den besiegten König von Taurien, bis zum Ende aller Tage zu schmähen.

Ausschnitt "Verhör des Lukullus"

Was später nur noch wenige Theaterautoren wagten, hat Brecht neben vielen anderen dramatischen Mitteln dezidiert als poetische Intarsie eingefügt. Rhythmus und Versmaß sind in diesen Zeilen von eigener, gleichsam "reiner" Schönheit, auch wenn sie erkennbar in einer Gefühlswelt angesiedelt sind, die heutigen Emotionen sehr fern erscheint.
Die Vielfalt der Gestaltungsmittel wird auch dadurch möglich, dass Brecht in das Geschehen um die Machtfigur Lukullus die Ebene eines überirdischen Gerichts eingeführt hat. Dort wird ihm die Möglichkeit gegeben, sich zu rehabilitieren. Aber dazu kommt es nicht. Die Macht hat Lukullus selbst zerbrochen, denn Macht ist es nicht, die den Menschen "im Innersten zusammenhält".
Dieser und andere Schätze warten in den Archiven der Sender darauf, geborgen zu werden. Den Innovationen der aktuellen Radiomacher und schreibenden Kreativen wird damit nichts in den Weg gelegt. Im Gegenteil: wo Qualität sich im imaginären Bereich der Kunst begegnet, entsteht etwas von dem, was das Leben lebenswert macht