Höhenflüge, Schüsse und Schwarmproduktionen
13:53 Minuten
Der Juli kann kommen: In "wing.suit" wird die Geschichte eines modernen Ikarus inszeniert, "Der Fall Meursault" setzt dem Schuss aus Albert Camus' "Der Fremde" einen algerischen Gegenschuss entgegen, und in "Zusammen Walden" schwimmen unzählige Stimmen gemeinsam gegen den Strom.
"wing.suit" von Lisa Sommerfeldt
Ikarus hat nicht auf die Warnung des Vaters gehört. Er flog zu nah an die Sonne, das Wachs in seinen Federn schmolz, er stürzte ins Meer. Florian hört im Traum die Warnung seines Vaters vor dem Höhenflug auch zu spät. Deshalb fragt er im Leben erst gar nichts mehr, sagt nichts mehr. Fällt aber trotzdem genau hier, im Leben, tief. Und zwar nicht erst, als er beim Fallschirmspringen im Wingsuit in eine Felsenschlucht stürzt.
Der Protagonist in Lisa Sommerfeldts Hörspiel "wing.suit" hat schon vorher das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Im Job als Anwalt läuft es zwar gut, aber die beiden Kinder sieht er kaum mehr. Marie, mit der er sich eigentlich die Hausarbeit teilen wollte, wird in die Rolle des Hausmütterchens gedrängt. Lisa, seine Geliebte, fordert von ihm die Trennung. Als Marie die Diagnose Brustkrebs bekommt, rückt die Erfüllung dieser Forderung einmal mehr in die Ferne.
Denn schon vor dieser Diagnose war Florian lieber ein Betrüger als Entscheidungen zu fällen. Florian passiert sein Leben mehr, als dass er es steuert. Er ist das passiv-aggressive Zentrum im Prozess eines Auseinanderfallens, eines stetigen, sich steigernden Nicht-Verstehens, einer Verfehlung. Weshalb die Gespräche zwischen Marie und Florian immer wieder gedoppelt sind, Gemeintes und Gesagtes auseinanderfallen.
Lisa Sommerfeldt schildert so banal wie poetisch das Auseinanderdriften eines Paares. Und viel mehr als das: Jeder ist hier gefangen in der eigenen Unfähigkeit, Ansprüche zu erfüllen, seinem eigenen Lebensentwurf gerecht zu werden, Abhängigkeiten zu überwinden. Zuhören - geschweige denn Mitgefühl - werden bei solcher Überforderung scheinbar unmöglich. Wo deshalb die Dialoge in der akustischen Doppelbelichtung zerfallen, hören sich auch die inneren Stimmen an wie müde Bestandsaufnahmen ohne Kontakt zu dem, dessen Leben sie beschreiben.
Ein Spiegel verunsicherter Männlichkeit
Es sind vielfältige sprachliche Mittel, die Lisa Sommerfeldt in ihrem zweiten Hörspiel für den WDR einsetzt. Schon wie das erste, "Dorfdisco", beruht es auf einem Theatertext. In der behutsamen Regie von Matthias Kapohl und im authentischen Spiel der Darsteller erfährt dieses stilistische Spektrum versierte akustische Ausgestaltung. Alltagsdialoge gehen über in poetisch-musikalische Sequenzen oder münden in Collagen für die mythologische Überhöhung: die Grausamkeit des Kronos, der Flug des Ikarus, die Blendung des Ödipus, die Rätsel der Sphinx.
Immer wieder wird die traurige Banalität einer Trennung überführt in die existenzielle Verfehlung des Menschen, sich selbst zu erkennen. Ob Hybris, Ignoranz oder Trotz, so sehr Marie, Lisa und Florian versuchen, nicht Opfer zu sein, so sehr sind sie es. Ihrer selbst. Vor allem Florian, ein Spiegel verunsicherter Männlichkeit unserer Gegenwart, wird in seiner Hilflosigkeit zum Unheilstifter. Und so scheint es eben zwingend, dass sein Flug im Wingsuit wie der des Ikarus ein fataler ist. Selbst-Apotheose und Katastrophe fallen zusammen. Letztlich auch Spiegel einer politischen Konstellation.
"wing.suit" von Lisa Sommerfeldt ist am 11.7. um 19.00 Uhr auf WDR 3, am 12.7. um 17.00 Uhr auf WDR 5 zu hören.
"Der Fall Meursault" von Kamel Daoud
Der Tod steht nicht am Ende sondern am Anfang des Hörspiels "Der Fall Meursault". Fünf Schüsse. Gefallen im Jahr 1942 am Strand von Algier. Das Opfer: "Der Araber". Sein Mörder: Meursault, der Protagonist in Albert Camus Roman "Der Fremde".
Ein Franzose in Algerien, den lächerliche Zufälle zum Mörder machen. Und seinen Autor weltberühmt. Der Araber aber, das Opfer, bleibt namenlos. Und in dieser Namenlosigkeit steckt eine noch größere Untat als der Mord an einem arabischen Jungen. Sie ist auch Spiegel eines kolonialen Frankreichs und der Unterdrückung Algeriens. Mit der Stimme des Bruders des "Arabers" verschafft sich dies im Jahr 1962 – dem Jahr seiner Unabhängigkeit – Gehör. Und diese Stimme kennt den Namen ihres Bruders: Moussa.
2013, etwas mehr als 70 Jahre nach dem Erscheinen von Albert Camus’ "Der Fremde", ließ der algerische Autor Kamel Daoud im Roman "Der Fall Meursault" seinen Erzähler eine Gegendarstellung abgeben. Denn dieser Erzähler spricht von seinem ermordeten Bruder Moussa.
In der Hörspielbearbeitung von Ulrich Lampen des hr lotet neben vier weiteren Darstellern vor allem Sylvester Groth die vielen Schattierungen aus, die darin liegen: Anklage, Beichte, Verhör, Bilanz. Traurig und zugleich vorwurfsvoll erzählt er davon, wie seit dem Mord das Leben der Mutter und sein eigenes im Schatten eines Toten stattfanden.
Ein höchst gelungener Loop
Wie im Selbstgespräch - und doch immer an einen namenlosen Fremden gerichtet - beschreibt er, wie die Suche nach dem Täter eine nach der eigenen Identität wird. Eingebunden in die Geräuschkulisse einer Bar, dann wieder in akustisch ausgemalten Rückblenden schildert er, wie der Rachemord an einem Franzosen im Vergleich zum Befreiungskrieg seines Landes zur Bedeutungslosigkeit schrumpft. Letztlich aber kommt dieser Erzähler so wenig wie sein Land am Blick des Anderen, am weißen Blick vorbei.
Diese Unausweichlichkeit vor dem Blick des Anderen, ja die gegenseitige Abhängigkeit des Eigenen vom Fremden findet sowohl bei Daoud als auch im Hörspiel in einem literarisch-akustischen Spiegelkabinett ihren Ausdruck. Der Erzähler Daouds nähert sich immer mehr der Figur Meurault an.
Lampen speist zudem Originaltöne Camus' aus seiner Nobelpreisrede von 1957 ein, collagiert Dialoge aus der Visconti Verfilmung von "Der Fremde" und ihre Synchronisationsfassungen, setzt Geräusche von Filmrollen und Aufnahmegeräten ein. Wiederkehrendes Motiv dabei: die fünf Schüsse am Strand von Algier und ein namenloses Sterben.
So entsteht ein höchst gelungener Loop über Mord und Verkennung, über Versuch und Scheitern einer Aufklärung, über Schuss und Gegenschuss in einer Geschichte, die andauert. Die Lösung des "Falls Meursault" liegt vermutlich eben hier, in der immerwährenden und -geltenden Vielzahl von Perspektiven.
"Der Fall Meursault" von Kamel Daoud ist am 26.7. um 14.04 Uhr auf hr2 zu hören.
"Zusammen Walden" von Andreas Ammer, Driftmachine und Acid Pauli
Dass viele, auch ungeschulte Stimmen einen vielschichtigen Hörspiel-Hall-Raum kreieren, haben Andreas Ammer, Andreas Gerths und Acid Pauli schon einmal erprobt. 2016 hatten sie "Unendlicher Spaß", den über 1500 Seiten starken Roman von David Foster Wallace, als größtes Hörspiel aller Zeiten produziert. Im Netz konnte jeder der wollte die Lesung einer Seite des Buches als Audiofile hochladen. Kombiniert mit der unendlichen Musik der "Goldenen Maschine", einem aus 57 Modulen bestehendem analogen Synthesizer, der mittels Spannungsschwankungen komponierte, entstanden circa 80 Stunden kollektives Hörspiel.
Jetzt, in Zeiten der verordneten Quarantäne, jetzt, wo wir uns von der Gemeinschaft zurückziehen im Dienste dieser Gemeinschaft, haben Ammer, Acid Pauli und Driftmachine die Idee wieder aufgegriffen und das Schwarmhörspiel "Zusammen Walden" initiiert. Ausgangspunkt diesmal: Henry David Thoreaus Buch "Walden". Der amerikanische Autor und Philosoph hatte sich 1845 in eine Hütte im Wald von Massachusetts am Walden-Sees zurückgezogen. Im Tagebuch erforscht er die Grundlagen eines einfachen, guten Lebens, stellt Arbeits- und Lebensweisen seiner Zeitgenossen infrage und kritisiert die Marktlogik industrieller Gesellschaften. Die einsame Kontemplation über Kern und Sinn des Lebens, die uns Corona so abrupt wie intensiv aufdrängte, verfolgte Thoreau schon über 300 Jahre vorher freiwillig. Seine Gedankengänge haben nichts an Aktualität verloren.
Ammer und Co. haben aus dem umfangreichen Material, den zahlreichen Stimmen der Mitwirkenden, einem 24-Stunden-Fieldrecording im Wald und aus Musik, für die Gastmusiker eingeladen waren, vier 30-minütige Kompilationen erstellt. Ende Juli stehen sie beim WDR auf dem Hörspielprogramm.
Im Schwarm gegen den Strom
Schon die Vorabversionen vermitteln den Eindruck eines faszinierenden Zusammenspiels aus inhaltlichem Gewicht und klanglichem Sog. Die Macher vernetzen gekonnt und mit einem sicheren Gespür für Tempo Naturklänge, elektronische und analoge Kompositionen und die so unterschiedlichen Tonlagen, Akzente, Färbungen der Sprechenden. Die Herausforderung, aus so heterogenem Material ein fließendes, die Unterscheide nicht glättendes, sondern sie nutzendes Ganzes zu machen, gelingt überraschend gut.
Rhythmische Variation, der kluge Wechsel von Stimmen - gerne inmitten eines Satzes -, die Bündelung in Themenkomplexe, also die inhaltliche Verdichtung in den Kompilationen, überzeugen sowohl konzeptionell wie auch künstlerisch. Wenn Schwarmintelligenz immer so klingen würde, schwämme man tatsächlich gern mit im Strom. Was nicht heißt, dass man nicht doch froh wäre über die Gegen-den-Strom-Schwimmer-Kompetenz eines Aussteigers wie Henry David Thoreau.
"Zusammen Walden" ist vom 27.07 bis zum 30.07. jeweils um 19:04 Uhr auf WDR 3 zu hören.