Geschichte der Hörspieldramaturgie Teil 4

Offene Formen. Das Neue Hörspiel.

11:01 Minuten
Eine junge Frau sitzt in einem Siebzigerjahre-Wohnzimmer an einem Tisch, im Vordergrund steht ein Radiogeraet REMA adagio.
Radiohören 1970 © dpa/akg/Guenter Rubitzsch
Von Ulrich Bassenge |
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Im vierten Teil seiner Geschichte der Hörspieldramaturgie befasst sich Ulrich Bassenge mit den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren, mit der Genese des "Neuen Hörspiels".
Ausschnitt "Radio Daze"
Zitat Schöning: "Ein so großer Zuwachs von neuen Hörspielautoren in der Zeit von 1967 bis 72 ist nur mit dem von 1947 bis 55 vergleichbar - Ergebnis einer aktiven, offenen Dramaturgie. Diese Entwicklung wurde bekannt unter dem Schlagwort Neues Hörspiel. Ich hatte es 1968 eingeführt, ohne zu ahnen, welche Definitionen und Denunziationen damit ausgelöst werden sollten."
Klaus Schöning, einer der Protagonisten, blickt 1982 zurück. Von Anfang an hat sich Schöning, langjähriger Dramaturg und späterer Leiter des WDR3 HörSpielStudios, für Prägung und Marketing des Begriffs Neues Hörspiel - mit großem N - stark gemacht. Dank dieser promotion ist das Schlagwort heute nahezu synonym mit dem Wort von der "Kölner Dramaturgie". Tatsächlich ist das ein kleines bisschen ungerecht, denn auch Hansjörg Schmitthenner sowie Heinz Hostnig und Werner Klippert haben beim Bayerischen bzw. Saarländischen Rundfunk Entscheidendes zur Entwicklung des freien, nicht ausschließlich erzählenden Hörspiels beigetragen. Und auch das Hörspiel, das 1969 mit der Verleihung des Kriegsblindenpreises ganz offiziell das große N etabliert – nämlich Jandl/Mayröckers fünf mann menschen, ist im Süddeutschen Rundfunk entstanden. Eigentlich ist das Manuskript zuerst Schmitthenner angeboten worden. Doch dessen Chef im BR, der Hörspielleiter Dollinger …
Zitat Dollinger: "… las es und sagte nichts, gab’s den Lektoren und die schrieben: Das ist ein Studentenulk, das macht ‘n Student zum Kommersabend, in einem halben Abend schreibt der das. Dann fand ich auf meinem Schreibtisch einen Brief, von ziemlich weit oben: ‚Aus künstlerischen Gründen ist es unsendbar und es ist den Autoren zurückzusenden.‘ "
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Autorin Friederike Mayröcker formuliert in ihrer Dankesrede zum Hörspielpreis der Kriegsblinden:
Zitat Mayröcker: "Was ich vom Hörspiel fordere, ist: Es muss akustisch befriedigen, faszinieren, reizen, d.h. der akustische Vorgang muss beim Hörer eine ganz bestimmte Reaktion hervorrufen, etwas, das in der Nähe musikalischen Genusses liegt, aber statt von Tönen von Worten und Geräuschen ausgelöst wird."
Zunächst einmal bedeutet dieses Neue Hörspiel eine Vielfalt von Ausprägungen, die vorher so nicht möglich waren. Sie betrifft Inhalte, technische und sprachliche Umsetzung und den Umgang mit dem Raum, der in den 1960er Jahren stereophon geworden ist. Sie betrifft die Einbindung von Originalaufnahmen und das Abrücken vom Manuskript als der verbindlichen Form des Hörspiels, aber auch so einfache Dinge wie die Länge. Statt der üblichen Einstundendauer werden Hörspiele plötzlich in mehr oder weniger extremen Kurzformen verwirklicht. So ist fünf mann menschen, der Prototyp und Eisbrecher des Neuen Hörspiels, gerade mal eine Viertelstunde lang. Auch Gerhard Rühm, Franz Mon oder Ferdinand Kriwet ziehen die prägnante Kürze dem breit getretenen Quark vor. Abendfüllend muss das nicht mehr sein, gerade nachdem der Angstgegner Fernsehen in den Abendstunden das Publikum vom Radio abzieht.
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Der argentinische Komponist Mauricio Kagel wird von Klaus Schöning erstmals mit dem Genre Hörspiel konfrontiert. Für (Hörspiel) ein Aufnahmezustand zieht er alle Register, nimmt viele Stunden Material auf und collagiert sprachliche und musikalische Improvisationen mit Tonband und Schere. Dafür erhält er 1970 den Karl-Sczuka-Preis für Hörspielmusik. Mit eigens geänderter Satzung wird von da an ausgezeichnet:
Zitat : "Die beste radiophonische Produktion, in der Sprache, Geräusch und Musik nach musikalischen Formprinzipien behandelt wurden"
Diese Öffnung ist ein unmittelbares Produkt der vorangegangenen Entwicklungen, die auch kompositorische Verfahren zulassen, die mit dem Traditionsbegriff Hörspiel nicht mehr zu fassen sind. Denn:
Zitat: "Das Hörspiel ist eine offene Form."
Wie Helmut Heißenbüttel 1968 in seinem persönlichen Horoskop des Hörspiels postuliert hat:
Zitat Heißenbüttel: "Autoren, Dramaturgen und Regisseure sollten sich stets bewusst sein, dass sie machen können, was sie wollen, dass es für das, was sie ausprobieren wollen, keine Grenzen gibt."
Das gilt offensichtlich nicht für alle. Als der Experimentalkünstler Hans Herbert Schuldt 1970 in Eigenproduktion ein Stück aus gefundenen Texten für den Westdeutschen Rundfunk montiert, muss er feststellen:
Zitat Schuldt: "In der schönen Welt des Neuen Hörspiels wollte keiner etwas damit zu tun haben. Nur Peter Faecke hat es als 'Literatur' im WDR verkürzt gesendet. Die Protestanrufe blockierten die Zentrale für zwei Stunden."
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Zitat Schuldt: "Das Hörspiel ist primitiv. So musste es auch sein. Hätte ich nach Schönheit und ästhetischem Rang gestrebt, wäre etwas Anderes daraus geworden: perfekter, vollgedröhnt mit Raffinessen wie Echo Nachhall Mischung Musik. Irreführender Glanz hätte sich über den heiseren Stacheldraht der Stimmen gelegt. Das wollte ich nicht."
Deutschland aufsagen, Deutschland nachsagen heißt diese anhaltende Provokation aus bedeutungslosen Texten und ungeschulten Stimmen, die dem geduldigen Ohr ein trancehaftes Erlebnis verschaffen kann.
Zitat Schuldt: "Der Titel ist langatmig aber wahrheitsliebend: kein Wort ist von mir, alles abgeschrieben: Stellenanzeigen, Speisekarte, Schlagertexte, Wetterbericht für Nordseefischer, Preisliste vom Friseur, Ladennamen ..."
Eingangs der Siebziger Jahre meldet sich Friedrich Knilli, dessen Polemik vom "totalen Schallspiel" 1961 die Entwicklung angestoßen hat, zu Wort. Er behauptet, dass das Neue Hörspiel genau so reaktionär sei wie das alte.
Zitat Knilli: "Seine Autoren reagieren bloß auf Politik. Sie verstehen sich als freie Schriftsteller, parteilose Literaten und literarische Übermenschen, spezialisiert auf die Entlarvung politischer Rede, wissend, was gute und schlechte Rede ist, wahre und falsche, schöne und hässliche, sie sind die Entdecker der neuen schönen Welt der neuen schönen Sprachmuster, die Spießer der Siebzigerjahre. "
Knillis pauschale Kritik an der systemimmanenten sprachkritischen Selbstbespiegelung zielt natürlich auch auf die produzierenden Rundfunkanstalten. Mit ihrer Ideologie und mehr noch mit ihrem Formatzwang von festgelegten Tageszeiten, Sendelängen und Programmentscheidungen tragen sie zur Entstehung eines neuen Kanons bei. Doch gibt es Gegenbeispiele, um Knillis Argumente zu entkräften. (Hörspiel) ein Aufnahmezustand ließe sich in letzter Konsequenz zum 60-Stunden-Hörspiel ausweiten, ein stetes work in progress. Das ist wirklich freie Kunst. Oder denken wir kurz an Ludwig Harig, dessen O-Ton-Collage Staatsbegräbnis 1969 vom Saarländischen Rundfunk produziert, bezahlt und letztlich nicht gesendet wird.
Zitat Drews: "Staatsbegräbnis ist für mich immer noch ein Beispiel lachender, souveräner, gänzlich unverbiesterter Ideologiekritik, aus der staatstragenden Rhetorik wird die Luft ‚rausgelassen‘."
So schreibt der Kritiker Jörg Drews.
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"AUA 231" ist ein von Gerhard Rühm und Urs Widmer gemeinsam produziertes Hörspiel. Ein großer Spaß, in dem die Majorität der Wiener Szene der Sechziger Jahre mitspielt, so z.B. eine Frau Mayröcker, gesprochen von Friederike Mayröcker, aber auch Ernst Jandl, das Aktionisten-Ehepaar Ana und Günter Brus nebst Otmar Bauer, H.C. Artmann, Oswald Wiener sowie der zum Zeitpunkt der Produktion bereits verstorbene Konrad Bayer in einer stummen Rolle.
Zitat: "AUA 231 ist nur zum kleinsten Teil im Studio entstanden. Die Aufnahmen sind zu Hause gemacht worden, mit den Stimmen, für die die Rollen von vornherein konzipiert worden sind. So sind - innerhalb der äußerst dramatischen Handlung - auch so etwas wie (richtige oder falsche) Porträts der Sprecher entstanden."
Mit dieser Feier der authentischen oder auch ungeschulten Stimmen verlassen wir das Neue Hörspiel.

Alle Teile der Geschichte der Hörspiel-Dramaturgie: