Geschichte der Hörspieldramaturgie Teil 5

Fetisch Authentizität. Das O-Ton-Hörspiel.

11:05 Minuten
Junge Leute produzieren ein Hörspiel in Göttingen; auf dem schwarz/weiß-Bild sind drei junge Männer und eine Frau zu sehen, die in einem Wohnzimmer O-Ton-Aufnahmen für ein Hörspiel machen.
. © imago/Werner
Von Ulrich Bassenge |
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Zum fünften Mal begleiten wir Ulrich Bassenge auf seiner Reise durch die Geschichte der Hörspieldramaturgie. Diesmal begibt er sich auf die Suche nach dem vermeintlich Echten - nach Authentizität im O-Ton-Hörspiel, das in den Siebziger Jahren entstand.
Zuspiel Radio Daze
In zeitlicher Nähe zum Neuen Hörspiel entsteht das Original-Ton-Hörspiel. Seine Vorläufer sind in Walter Ruttmans Montage Weekend aus dem Berlin der Zwanziger Jahre zu suchen, aber auch in Bertold Brechts Theorie zur Partizipation des Radiopublikums. Durch transportable Tonbandgeräte ist es leichter geworden, "raus aus dem Sender" zu gehen, hin zu den Menschen und ihre Erzählungen einzusammeln.
Zitat Heinrich Vormweg: "Ich sehe im Originalton-Hörspiel ein Verfahren, sozial Wirkliches – betreffe es Minderheiten, Außenseiter, summarisch die unterdrückte Klasse – zu erkunden und ihm in einem literarischen Akt eine Bedeutung zu erzwingen."
So formuliert der Literaturkritiker Heinrich Vormweg 1974 die linken Ansprüche und Erwartungen an das O-Ton-Hörspiel. Angedacht ist nichts Geringeres als eine Einbindung des Hörers, eine Verwandlung des Konsumenten in einen Produzenten von Radio.
Zitat Heinrich Vormweg: "Wer nun meint, per O-Ton könne man nun endlich auf die Massen wirken, der täuscht sich. Noch in seinen scheinbar einfachsten Beispielen setzt auch das O-Ton-Hörspiel die Fähigkeit zur Rezeption von Kunstprodukten voraus, die Fähigkeit der Unterscheidung etwa zwischen Gesagtem und dem Zitat eines Gesagten."
Das kann bedeuten, dass der Wirklichkeitstransfer einmal mehr mit der Wirklichkeit verwechselt wird. Auch wenn Paul Wühr seine manipulierenden Schnitte und didaktischen Wiederholungen gewissenhaft für die Hörer*in kenntlich macht:
Zuspiel Paul Wühr: Preislied
Wie der Dokumentarfilm – um einmal die Analogie zum Kino zu bemühen – ist das Originaltonhörspiel ein Kunstprodukt. Denn egal, wie der Ton erzielt worden ist: im Rahmen eines Kunstwerks bleibt er stets Material. Die "Bemühungen um das Verfahren O-Ton" finden 1972 eine erste Anerkennung im Hörspielpreis der Kriegsblinden:
Zitat Jury Hörspielpreis der Kriegsblinden: "Paul Wühr hat aus Originaltonaufnahmen, auf denen ein breites Spektrum typischer Äußerungen unterschiedlicher Menschen zu Fragen ihres privaten Lebens und ihrer Einstellung zur Gesellschaft festgehalten sind, eine unser Zeitbewußtsein charakterisierende und zugleich kritisierende Komposition entwickelt."
Paul Wühr, der außerhalb des Radios ein vielfältiges, reich verzweigtes literarisches Werk verfolgt, fasst das O-Ton-Hörspiel als Erweiterung und Transzendierung des solitären Autorenbegriffs auf, als künstlerisch-kommunikativen Pluralismus.
Ausschnitt Interview Paul Wühr: Hörer als Produzent
Wie Dziga Vertov 1928 mit seiner Kamera hinausgegangen ist, um der sowjetischen Bevölkerung ein Denkmal zu setzen, so hat Paul Wühr eine Großstadt mit dem Mikrofon porträtiert.
Zitat: "Es sollte ein Preislied entstehen; Münchner sollten dieses Preislied singen."
Die Montage lässt diesen Hymnus mitunter ironisch schimmern. Auch das andere große Porträt deutschen Gesamtbewusstseins decouvriert durch ironische Montage die hohle Phraseologie eines Staatsaktes und überführt sie ins tragisch Lächerliche. Im starken Gegensatz zu Paul Wührs Ensemble von Volksstimmen …
Zitat: "So spricht unsereiner"
… besteht das Personal von Ludwig Harigs Staatsbegräbnis nahezu komplett aus Großkopferten, die - unterstützt von dienstfertigen Society-Reportern – den ersten Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, zu Grabe tragen.
Ausschnitt Ludwig Harig: Staatsbegräbnis 1
Auf dieses Stück wartete eine absurde Rezeptionsgeschichte. 1973 will der Luchterhand-Verlag Staatsbegräbnis auf Tonträger veröffentlichen. Der CDU-nahe Intendant des Saarländischen Rundfunks, Franz Mai, verweigert die Übernahme unter dem Hinweis auf die politische Zielsetzung des Hörspiels. Es sei eine Verletzung "des sittlichen und religiösen Gefühls" der Bevölkerung und eine "zynische Manipulation", erklärt er. Zudem sperrt er das Stück für andere Radioanstalten. Rückblickend schreibt die Saarbrücker Zeitung 1999:
Zitat: "Noch heute kann Harig diese Begründung nicht fassen. Er habe Manipulation doch gerade offenlegen wollen."
Anfang der Siebziger herrscht noch Euphorie. Erika Runge, die einzige Frau im Chor der O-Ton-Monteure, weist mit ihren Bottroper Protokollen einen Weg. Sie hat den Malocherinnen und Malochern im Ruhrpott das Mikrofon vorgehalten und trimedial, in Film, Buch und Hörspiel den Arbeiter zum Kulturproduzenten erklärt. Paul Wühr äußert sich bereits nach seiner Preisverleihung skeptisch.
Ausschnitt Interview Paul Wühr
Der WDR bekennt sich zur Arbeiterklasse und lässt – fernab der Hörspielstudios - eine Reihe von Stücken in kollektiven Prozessen erarbeiten. Michael Scharang veröffentlicht zusammen mit Ernst, Otto und Ottmar das systemkritische O-Ton-Hörspiel Einer muss immer parieren.
Ausschnitt "Einer muss immer parieren"
Ror Wolf, ein ähnlich eigentümlicher Autor wie Paul Wühr, frönt unterdessen einer speziellen O-Ton-Obsession:
Ausschnitt "Der Ball ist rund"
Pflegt Paul Wühr die inoffizielle Rede und Ludwig Harig die Sprache der offiziellen Worthülsen, wendet sich Ror Wolf dem Impromptu des Rundfunks zu: der Stegreif-Improvisation der Sportreportage. Pardon: natürlich der Fussballreportage. Und allem anderen, was Fussball so mit sich bringt: Fans, Spieler, Platzwarte. Eine Fundgrube scheinbarer Authentizität. Ror Wolf montiert meisterlich und musikalisch. Während die Zeit des O-Ton-Hörspiels sich dem Ende neigt und selbst ein eingefleischter Verfechter wie Klaus Schöning feststellen muss …
Zitat Johann Maria Kamps: "… dass das Original-Ton-Hörspiel grundsätzlich keinen größeren Wert aufweist als das Nicht-Original-Ton-Hörspiel …"
… bedauert Johann Maria Kamps, Dramaturg und Regisseur von Harigs Staatsbegräbnis:
Zitat Johann Maria Kamps: "Die in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre überall entstehenden Rollenspiele, O-Ton-Stücke, Planspiele und Dokumentationen boten eine neue Chance, die getrennt verlaufenen Entwicklungen von Feature und Hörspiel wieder zu vereinigen. Aber diese Chance wurde verpasst und verspielt."
Ich bin der Meinung: dokumentarische Verfahren sind mittlerweile in andere Produktionen integriert. 1989 betritt Ihr geneigter Autor das Terrain und huldigt seinen Vorbildern. Er montiert aus 30 Spulen Filmton der Dokumentation Spaltprozesse ein Kurzhörspiel. Die O-Töne bilden die vehementen Auseinandersetzungen um die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf in den 1980er Jahren ab.
Ausschnitt "fusion"
fusion ist das erste Hörspiel, das mit Sampling und Sequencer arbeitet. Heute eine Selbstverständlichkeit, wurden erstmalig digitale Loops, Stretches und Tonhöhenveränderungen für die musikalische Komposition eingesetzt.
Das O-Ton-Hörspiel lebt. Immer wieder spitzt es aus den Lücken, ob in den Improvisations-stücken des Schweizer Rundfunks, den Werken von Plamper und Rimini Protokoll oder im monothematischen Oeuvre des Künstlers Carsten Schneider. Seit Jahren schneidet er das Programm des Deutschlandradios mit, bevorzugt die Verkehrsnachrichten, und verwandelt sie in bizarre Klangskulpturen.
Ausschnitt

Alle Teile der Geschichte der Hörspiel-Dramaturgie: