Teil zwei: Das Eich-Maß. Nachkriegs-Dramaturgie.
10:48 Minuten
Ein Blick zurück auf die Anfänge der Radiokunst: Unter welchen Bedingungen, mit welchen Ideen und Visionen haben die Radiopioniere damals begonnen? Ulrich Bassenge setzt seinen Gang durch die Hörspielgeschichte fort und legt dabei das sogenannte "Eich-Maß" an.
Ausschnitt "Radio Daze"
Zitat: In einer Zeit, da der Hörbericht – und wir meinen hier insbesondere den vom Kriegsgeschehen – mit zum am stärksten Wirkenden der Rundfunksendungen gerechnet werden darf, muss das Gestellte das Feld räumen.
"Das Gestellte" - damit sind Hörspiele gemeint. Ab 1940 wurden im Dritten Reich kaum noch solche produziert. Nach dieser Sendepause herrscht 1945 gewissermaßen tabula rasa. Gerhard Prager, Dramaturg beim Süddeutschen Rundfunk schreibt:
Zitat: Es fehlen, wir wollen es einmal getrost aussprechen, die Dichter, die für den Rundfunk zu schreiben gewillt oder befähigt sind.
So ganz stimmt das nicht, denn Autoren wie Fred von Hoerschelmann, Wolfgang Weyrauch oder Günter Eich haben bereits in der Weimarer Republik für den Funk geschrieben und sind sogar während des Nationalsozialismus aktiv geblieben. Doch gibt es nach Emigration und Nazikitsch nur wenige, die den Neuanfang auf verbrannter Erde wagen wollten.
Ausschnitt "Ein Mann kommt Deutschland..."
Der Geburtstag des Nachkriegshörspiels fällt auf den 13. Februar 1947. Zur Primetime um 20 Uhr strahlt der Sender Hamburg ein schonungsloses Heimkehrerdrama von Wolfgang Borchert aus. Der Dramaturg des Nordwestdeutschen Rundfunks, Ernst Schnabel - selbst ein Pionier des Features - hat kurzfristig noch den Titel geändert: aus "Ein Mann kommt nach Deutschland" ist "Draußen vor der Tür" geworden. Die Resonanz in der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist ohnegleichen.
Zitat: Borcherts Schrei traf die Gemüter wie ein Naturereignis. Die Hörer schrien zurück: emporgerissen, gepeinigt, erschreckt, befreit, zornig, erschüttert, abwehrend, dankbar.
"Draußen vor der Tür" erfährt vier weitere Radio-Inszenierungen, x Theateraufführungen, eine Verfilmung und die Kanonisierung als Schullektüre. All das konnte der Autor nicht mehr erleben, da er durch einen Stromausfall die Ursendung und durch seinen Tod die Theaterpremiere verpasste.
Ausschnitt "Dr. Frings"
"Das Gerät hat das magische Auge, so dass man auch exakte Sendereinstellung auch auf dem UKW-Bereich hat." - "Was halten Sie vom Programm?"
"Wunderbar!" - (Musik) - "Wir hören die Ultrakurzwelle West."
Zitat: Zunächst einmal bekommt das Radio der Neunzehnhundertfünfziger Jahre eine Klangverbesserung spendiert. Zur Mittelwelle gesellt sich die Ultrakurzwelle.
Ausschnitt "Dr. Frings"
"Nun, der Klang verblüfft geradezu und er ist recht gut für ein kleines Gerät, das zudem noch im Bakelit-Gehäuse angebracht ist."
Das UKW-Radio verändert die Hörspielphilosophie. Der Medienhistoriker Hans-Jürgen Krug fasst zusammen:
Zitat: Das Anrufen gegen das Rauschen der Mittelwelle ist nicht mehr nötig, das Hörspiel entdeckt die Stille und die Pause.
Bereits 1935 ist beim Sender Berlin der erste "Hörspiel-Komplex" gebaut worden, ein Ensemble aus Kontrollraum, Aufnahmesaal und schalltotem Raum, in dem mit Tonbandmaschinen gearbeitet wird. Doch erst in den Fünfzigern entwickelt sich die Hörspielproduktion zur öffentlich-rechtlichen Radiokunst.
Zitat: Stimmen, Musik, Geräusche können nun aufgezeichnet, fast beliebig geschnitten und neu zusammengesetzt werden. Der Schnitt kann sich langsam gegen die Blende behaupten. Jetzt erst wird das Hörspiel zu einer wirklich technischen Kunst, jetzt erst ist es jederzeit technisch reproduzierbar.
Noch aber wird der Schnitt, diese harte Möglichkeit, Realitäten kollidieren zu lassen, abgelehnt. Medienwissenschaftler Bernhard Siegert konstatiert:
Zitat: Weil der Schnitt stets auf das Magnettonband verweist, auf dem das Hörspiel aufgenommen ist, insistiert er auf die Materialität des akustischen Signifikanten, anstatt ihn zugunsten der Produktion eines imaginären Signifikats zu verdrängen.
Einfacher ausgedrückt: die Nachkriegsdramaturgie vermeidet den harten Schnitt, weil er die Aufmerksamkeit auf das Medium lenkt. Bernhard Siegert nennt dieses Phänomen "negative Radioästhetik".
Ausschnitt "Dr. Frings"
"Die Güte der Darbietung steigt."
Im rauscharmen UKW-Radio der Adenauer-Ära etabliert sich umgehend eine neue Innerlichkeit, kuratiert von der alles beherrschenden "Hamburger Dramaturgie" des NDR. Hörspielchef Heinz Schwitzke beruft sich auf die Theorien seines früheren Parteigenossen Richard Kolb. Beide waren im Dritten Reich Radiomacher; beide verfechten sie die Idee einer inneren Bühne. Alles hat dem Wort zu weichen: Musik und Geräusch sind Staffage, bestenfalls Kennung. Das Feindbild heißt "Realismus".
Zitat: Ein Herabsinken des Hörspiels in das grob Realistische widerspricht dem Wesen des Funks. Der Hörspieldichter darf nie vergessen, daß das Realistische im Funk, wie sehr er sich auch bemüht, es begreiflich zu machen, für uns nur schemenhaft bleibt.
So raunt Richard Kolb, der Hausheilige Heinz Schwitzkes, in seinem "Horoskop des Hörspiels". Im selben Zeit- und Ideologiekontinuum ist der Dramaturg Gerhard Prager unterwegs. Sein Auftrag: für den Süddeutschen Rundfunk nach Günter Eich jagen. Als der fleißige Lyriker im Jahr 1950 fünf Hörspiele an andere Sender verkauft, macht ihm Prager ein Angebot, das Eich nicht ablehnen kann: 500 Mark im Monat als Hausdichter des SDR! Dafür will Prager vier Manuskripte pro Jahr auf dem Tisch sehen.
Zitat: Eich ist ein versierter Hörspieldichter, hat schon einen Wagen sich verrundfunkt, höre ich.
Schreibt Gottfried Benn - nicht ohne Neid - an einen Freund. Den gleichen Deal wie Günter Eich erhält Fred von Hoerschelmann, der daraufhin den Dauerbrenner "Das Schiff Esperanza" liefert.
Ausschnitt: "Was tun Sie hier alle?"
Dennoch ist Hoerschelmann ebenso wenig wie Wolfgang Weyrauch der prägende Radioautor jener Jahre. Der Lorbeerkranz gebührt allein Eich mit seiner unschlagbaren Mischung aus Können, Cleverness und Selbstvermarktung. Er trifft den Grundton der Nachkriegszeit: immer ein wenig im Ungefähren, immer unter dem Eindruck einer ungewissen Bedrohung.
Ausschnitt: "Wacht auf …
Sinnfälliger Ausdruck dieses Erfolges als Hörspielautor ist die Verleihung des "Hörspielpreises der Kriegsblinden". Am 3. März 1953 wird Eich in Bonn in Anwesenheit von Bundespräsident Theodor Heuss die Auszeichnung überreicht.
Der "Hörspielpreis der Kriegsblinden", begründet 1950, entwickelt sich schnell zur Katasterbehörde im Hörspielwunderland der Fünfziger Jahre. War man 1951 noch davor zurückgeschreckt, Eichs herausragendes Werk "Träume" zu küren - es hatte für wütende Reaktionen der Hörerschaft gesorgt -, beeilt man sich nun, das Versäumte gut zu machen. Hans-Ulrich Wagner schreibt in seiner Monographie über Günter Eichs Radioschaffen:
Zitat: Die Jury - paritätisch zusammengesetzt aus sechs kriegsblinden Juroren und sechs Hörspielkritikern unter dem Vorsitz von Friedrich Wilhelm Hymmen - hatte sich bei der Bewertung des Hörspielschaffens im Jahr 1952 nach eingehender Diskussion schließlich für Eichs Hörspieldichtung "Die Andere und ich" entschieden.
Eine Dichtung, die der geschäftstüchtige Poet parallel an drei Sender verkauft hatte. Regisseure wie Fritz Schroeder-Jahn oder Cläre Schimmel lassen Eichs Texten eine meist leise, beiläufige und innerliche Sprechweise angedeihen, sozusagen den "Eich-Ton". Geräuscharm, mit unaufdringlicher Zwischenmusik befördern ihre Inszenierungen sanft hypnotisch das literarische Spiel der Worte.
Ausschnitt: "Denke daran …"
1954 orakelt sein Wiederentdecker Gerhard Prager:
Zitat: Günter Eich ist für das deutsche Hörspiel ein stolzer und ein gefährlicher Name geworden. Die Rede vom absoluten "Eich-Maß" bei der Beurteilung der Hörspielkunst ist mehr als nur ein Aphorismus, mehr als ein kultischer Gag. Eich ist Qualitätsnorm geworden. Gefährdet sind vor allem die jungen Talente.
Irgendwann werden die jungen Talente aufstehen, um ihren Platz zu beanspruchen. Gegen Ende des Jahrzehnts beginnt der Eich-Thron zu wackeln.
Alle Teile der Geschichte der Hörspiel-Dramaturgie: