Hörspiel des Monats

Ein Berg, viele

Von Magdalena Schrefel |
Als sich der britische Geograf James Rennell im ausgehenden 18. Jahrhundert von seinem Lehnstuhl aus den Verlauf des Flusses Niger nicht anders erklären konnte, erfand er das Gebirgsmassiv "Kong-Berge". Für die nächsten 150 Jahren tauchten die erdachten Berge in beinahe allen Darstellungen des afrikanischen Kontinents auf. Mit dieser Geschichte verknüpft Magdalena Schrefel die Begegnung einer Hörspielautorin mit dem "Sandflüchtling" Ismael, der sie zu einem Lager namens Mount Kong führt.
Begründung der Jury der Akademie der Darstellenden Künste:
"Die deutsche Hörspiel-Autorin Pearl wird in ihrem Sommer-Urlaub in Italien am Strand von einem Verkäufer angesprochen: Ismael stammt aus Nigeria, Westafrika und kam über das Mittelmeer nach Italien. Sofort wittert Pearl in dem afrikanischen "Sand-Flüchtling" eine potenzielle Geschichte und zeichnet das Gespräch auf. Ismael wohnt, so berichtet er Pearl, in einem illegalen Camp. Der Name des Camps: Mount Kong. In Mount Kong herrscht laut dem Afrikaner der "king", er muss seine Zustimmung geben, damit die Redakteurin Pearl das Lager besuchen kann. Das Lager selbst ist auf keiner Karte verzeichnet, es scheint eigentlich nicht zu existieren: "If you look in the maps, there are no camps. But in reality, they are everywhere." Pearl lässt sich von Ismael zum Camp bringen - ihre Entdeckungsreise eine r unbekannten Landschaft beginnt.
Ende des 18. Jahrhunderts in Nordengland: Ein britischer Kartograph "ordnet die Welt in eine Karte". Aus der Perspektive der europäischen Entdecker und Eroberer und zugleich aus der sicheren Distanz seines Arbeitszimmers blickt er auf den ihm unbekannten, afrikanischen Kontinent und brütet über einer scheinbar unlösbaren Frage: "Warum fließt der Fluss [Niger] nicht gerade, sondern gekrümmt? Warum biegt er ab? (...) Weil eigentlich doch jeder Fluss gen Europa fließt. So lernt es schon ein jedes Kind." Die Lösung des geografischen Problems ist für den Briten ein Gebirgsmassiv, das er kurzerhand schlussfolgert und dann als "Kong-Berge" in den Karten verzeichnet - ohne dieses Gebirge je gesehen oder wahrhaftig "entdeckt" zu haben. In den nächsten 150 Jahren wird es in beinahe allen Darstellungen des afrikanischen Kontinents auftauchen.
Indem das Hörspiel "Ein Berg, viele" von Magdalena Schrefel die Geschichte des britischen Geografen James Rennell, der im 18. Jahrhundert das Gebirgsmassiv der "Kong-Berge" erfand, mit der des westafrikanischen Flüchtlings Ismael verknüpft, dessen Aufenthaltsort und damit auch Existenz von den Europäer*innen weder anerkannt noch geduldet wird, thematisiert es koloniale Deutungshoheit damals wie heute und zeigt darüber hinaus auf, wie stark diese Deutungshoheit noch heute in der europäischen Weltwahrnehmung verhaftet ist: "Every kid in every school in the city I come from learned about the white man who drew la montagne sur la carte. And we learned that his word counted more than our experience", so Ismael.
Besonders auffällig ist hierbei, dass auch Ismaels Geschichte im Hörspiel wieder von einer weißen europäischen Deutungshoheit erzählt und interpretiert, ja sogar als Element eines Hörspiels instrumentalisiert wird. Nachdem die Autorin Pearl aufgrund ihres europäischen Passes schnell aus der Razzia im illegalen Flüchtlingscamp fliehen kann, sitzt sie kurz darauf schon wieder erleichtert im Flieger nach Deutschland. Hier kann sie dann in der Sicherheit des Studios die Geschichte von Ismael erzählen. Natürlich von einem deutschen Sprecher eingesprochen, denn ein deutsches Hörspielpublikum würde keine so langen englischen Aussagen anhören, so die Redakteurin.
Das Hörspiel führt so vor, wie schnell auch ein Hörspielprojekt über koloniale Deutungshoheit sich selbst ad absurdum führen kann, da es sich wieder in ebenjene Erzähltradition einreiht. Die große Leistung von Autorin und Regie (Teresa Fritzi Hoerl) ist aber, mit diesem unvermeidlichen Risiko bewusst umzugehen. Durch eine genau dosierte Überzeichnung von Genre-Klischees, etwa in Bezug auf historisches Erzählen oder auch auf die Meta-Erzählung mit der Redakteurin, stellt das Hörspiel seine eigene Konstruiertheit und damit auch die potenzielle Fragwürdigkeit seiner Konstruktion bewusst aus. Es lädt damit zum Nachdenken über koloniale Verhaltensmuster und Erzähltraditionen ein und lässt den privilegierten, westlichen Hörer ins Zweifeln über die eigene Wahrnehmung kommen. Denn: "[E]s geht (...)um die Frage, was es heißt Geschichten zu erzählen, ob Behauptung nicht immer auch die Ausübung von Macht ist.""

Ein Berg, viele
Von Magdalena Schrefel
Regie: Teresa Fritzi Hoerl
Mit Leonie Benesch, Richard Djif, Matthias Brandt u.a.
Produktion: BR/ORF 2020

Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zeichnet jeden Monat ein Hörspiel aus den Produktionen der ARD-Anstalten aus. Die Entscheidung über das HÖRSPIEL DES MONATS trifft eine Jury, die jeweils für ein Jahr unter der Schirmherrschaft einer ARD-Anstalt arbeitet. Am Ende des Jahres wählt die Jury aus den 12 Hörspielen des Monats das HÖRSPIEL DES JAHRES.