Hörspiel des Monats Juni 2024
Mit Dolores habt Ihr nicht gerechnet
Ein jüdisch-queeres Rachemusical
Von Tucké Royale und Johannes Schmit
Hörspielbearbeitung: Tucké Royale
Regie: Tucké Royale
Mit: Thea Ehre, Mehmet Ateşçi, Karin Hanczewski, Wera Bunge, Godehard Giese, Daniel Zillmann, Astrid Meyerfeld, Eva Meckbach, Christian Kuchenbuch u.v.a.
Musik: Angy Lord, Ted Gaier, Yuriy Gurzhy, Paula Sell und Tucké Royale
Ton und Technik: Bodo Pasternak und Eileen Dibowski
Produktion: rbb 2024
Länge: 54'44
Hörspiel des Monats Juni 2024
Ihr erliegen sie alle. Es muss schließlich eine geben, die die Geschichte repariert: Dolores. © Petrenko Dasha / EyeEm
Mit Dolores habt Ihr nicht gerechnet
Queer, jüdisch, Nazi-Jägerin. Dolores erobert die Bühnen Berlins und der Welt – als Tänzerin und als Transfrau – bis die Nazis ihre Schwester Ida deportieren. Dolores schwört Vergeltung. Ein jüdisch-queeres Rachemusical.
Das Hörspiel wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zum Hörspiel des Monats Juni 2024 gekürt.
Aus der Begründung der Jury der Akademie der Darstellenden Künste:
Argentinien, Buenos Aires. Eine Figur namens Dolores, jüdisch, antifaschistisch, tanzt Tango mit Nazi-Größen, die hier gelandet sind - unter ihnen Eduard Roschmann alias Federico Wegener, auch bekannt als „Schlächter von Riga". Roschmann, so die historische Realität, ging den Nazijägern bis zuletzt durch die Lappen und schaffte es immer wieder, unbehelligt zu bleiben, bevor er 68-jährig in Paraguay starb. Nicht so in diesem „jüdisch-queeren Rachemusical" von Tucké Royale. Da „fällt" Roschmann auf dem Weg zur Toilette „an die zehn Mal" in Dolores’ Messer. Meisterhaft wird bedient, was dem Hörspiel eigen ist: Mit Wort und Musik das „Kopfkino" zu aktivieren, brutal und leichtfüßig zu erzählen, was an Brutalität fürs Auge schwer erträglich wäre. Dolores hat sich nämlich auf die Ermordung deutscher Judenmörder spezialisiert und ist darin äußerst erfinderisch, während sie sich in Argentinien oder im Berliner Nachtleben als Tänzerin tummelt: etwas Arsen im Cocktail hier, ein blutig endender Garderobenbesuch eines Verehrers dort.
Das Hörstück, dessen Inhalt 2017 als Stück auf die Berliner Bühne des Maxim-Gorki-Theaters kam und das von einer Recherche zum russisch-polnischen Tänzer und Aktivisten Sylvin Rubinstein inspiriert wurde, stellt auf saftige, bewusst blutrünstige Art die jüdische Ohnmacht und Machtlosigkeit auf den Kopf und gibt der größtenteils ungelebten Realität jüdischen Widerstands gegen Massentötung und nationalsozialistische Quälereien in einer fiktionalen Story Raum. Dies in der Absicht, das Trauma zu ertragen und Geschichte, wenigstens an ihren Zipfeln, umzudeuten zwecks Ermächtigung Millionen meist Machtloser. Über all dem schwebt die tragende, rauchige Stimme jener großartigen Dolores, der wir ihre Performance abnehmen als alles verschlingender Racheengel. Mal unschuldig, mal triumphierend spricht Thea Ehre die Hauptfigur mit Stolz, Verspieltheit und abgeklärtem Durchblick. Dolores’ Treiben folgen wir gerne, ihrem „Ein-Mann-Geheimdienst im Frauenkörper", „einer Variation der Natur", wie der Berliner Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld betreffend ihres Frauseins im Zwitterkörper zitiert wird. Wir folgen Dolores gerne, vielleicht, weil sie so wunderbar die Hüften schwingt und göttlich singt. Aber auch, weil ihre zartere Schwester Ida ins Konzentrationslager deportiert wird und ihr Zwilling vermuten muss, dass sie dort stirbt. Ohne Gegenwehr, ohne Kampf und Stimme - wie so unendlich viele andere mit ihr.
Indem Ida im Epilog ihre Flucht aus dem Zug ins Lager beschreibt, ihren bewaffneten Widerstand gegen die SS, ihr späteres Tanzen in einem selbst gegründeten Theater im Kibbuz bis die Knochen nicht mehr wollten, korrigiert Royale die Wahrscheinlichkeit von Biografien, die ein unmenschliches Ende gefunden haben. Die Jury lässt sich vom blutigen, zugleich rasanten und lustvollen „Kampftanz" Tucké Royales mitreißen, mit dem der Künstler eine „ästhetische Verdrängung der Realität", eine „Neue Selbstverständlichkeit" anstrebt und die alternative Geschichtsschreibung zur machtvollen Behauptung werden lässt.
Anschließend:
Hauptsache Hörspiel - Folge 23
Tucké Royale, geboren in Quedlinburg, lebt in Berlin und arbeitet als Autor, Regisseur, Musiker und Schauspieler. Royale studierte Judaistik an der Freien Universität Berlin und Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Seine Theaterstücke und -inszenierungen „TUCKÉ ROYALE“ und „ICH BEIßE MIR AUF DIE ZUNGE UND FRÜHSTÜCKE DEN BELAG, DEN MEINE RABENELTERN MIR HINTERLIEßEN“ und „MIT DOLORES HABT IHR NICHT GERECHNET“ wurden international gezeigt. Er drehte den Dokumentarfilm „Stonewall Uckermark“. Sein erster Spielfilm „Neubau“ kam im November 2020 in die Kinos.