Hörspiel des Monats September 2024

Die Rassistin (1-3/6)

76:17 Minuten
Eine Frau sitzt allein in einem Vorlesungssaal.
Die Dozentin auf der Anklagebank: Ist sie eine Rassistin? © Waldemar Błażej Nowak / EyeEm
Von Jana Scheerer |
Die lesbische Uni-Dozentin Nora Rischer sitzt auf dem gynäkologischen Stuhl in der Kinderwunschpraxis, als sie in einer Mail von einem Rassismusvorwurf an ihrer Uni liest. Sie ist vorauseilend empört. Dann merkt sie, dass sie selbst gemeint zu sein scheint.
Das Hörspiel wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zum Hörspiel des Monats September 2024 gekürt.
Begründung der Jury der Akademie der Darstellenden Künste:
"Liegt eine lesbische Cis-Frau, Unidozentin für Soziolinguistik, im Untersuchungsstuhl einer Kinderwunschpraxis und erhält auf dem Handy die auf sozialen Medien sich ausbreitende Mitteilung eines rassistischen Vorfalles in ihrem Institut. Wurden nicht jüngst in einer ihrer Lehrveranstaltungen drei chinesische Studierende nach deren Referat wegen des unverständlichen Deutschs von einem Kommilitonen harsch kritisiert, und sie als Dozentin war im Sinne der Correctness nicht entschieden genug eingeschritten? Das reicht für einen Sturz in die Abgründe von Angst und Verzweiflung, in die das politische Über-Ich sie stößt. Das Drama der begabten Akademikerin kann beginnen. Ausgetragen wird es von einem Chor innerer Stimmen. Immer neue Mitteilungen ploppen auf und treiben die Gewissensturbulenzen an, gepfeffert durch die Ungewissheit, wann die namentliche Nennung der verantwortlichen Lehrperson endlich zur öffentlichen Verurteilung führt. Denn bis jetzt ist nur vom Vergehen selbst die Rede. Im persönlichen Ringen der Protagonistin mit sich selbst wird die kritische Gegenwartsphilosophie von Antirassismus, -sexismus, -klassismus, die Lehre von der Repression gegenüber Gender- und sexueller Identitäten durchdekliniert. Ihre Werte sind wichtig und unverzichtbar. Umso schmerzhafter treffen Vorwurf und Selbstvorwurf.
Aber die deutsche Autorin Jana Scheerer fiktionalisiert auf einer Metaebene auch noch die Erzählsituation ihres zuerst als Roman erschienenen Textes, der sich allerdings als Hörspielvorlage enorm eignet: Sie erfindet einen Schriftstellerkollegen, der ihr das Material des Projektes abnimmt und zu einem Ganzen verarbeitet, weil sie sich damit überfordert fühle. Damit kann sie die Empörung des Zeitgeistchors darüber lostreten, dass sich ein Mann, wenn auch schwul, anmaßt, die Befindlichkeit einer Frau im gynäkologischen Ambiente zu beschreiben. Und das trifft einen zentralen Nerv des Themas: Zugestandenermaßen unerlässlich ist der kritische Filter, der prüft, wer in welcher Lebenssituation zu oder über wen in welcher anderen Lebenssituation was sagt oder predigt. Aber verabsolutiert und als Waffe eingesetzt, zerschneidet dieses Kriterium jegliche Gemeinsamkeit von Kommunikation und Empathie, zerstört die Spontaneität des Zusammenlebens und ersetzt letzteres durch die Machtkämpfe eines gesellschaftssprengenden Betroffenheitstribalismus’. Es terrorisiert, wie die Produktion eindrücklich aufzeigt.
Dabei wird nur allzu schnell aus Antirassismus ein Gegenrassismus, herkömmliche Identitätsformen werden unter Generalverdacht gestellt und mit ewigem Erklärungsbedarf belegt, und dies in einer scheinsanften Sprache («ich finde es schwierig, dass…», «ich fühle mich unwohl»); diese liegt über einer gehörigen Portion autoritärer, zensorischer Wut wie Raureif über einer Landschaft und erinnert an die repressive Liebenswürdigkeit religiös christlicher Diskurse. Der dialogische Prozess in Scheerers Werk ist sprachlich so scharf, das sprechende Ensemble mit Luise Wolfram in der Hauptrolle so präzise und die schmucklos elegante Regie von Steffen Moratz so tadellos im Timing, dass man als Jury die Hörpflicht vergisst und sich die ganze Serie in einem Mal hineinzieht. Man will es wissen - und wird am Schluss auch noch überrascht. Darum wählen wir Jana Scheerers sechsteilige Serie zum Hörspiel des Monats September 2024."
Alle Folgen von "Die Rassistin" in der ARD Audiothek.
Anschließend:
Hauptsache Hörspiel - Folge 26
Von Hanna Steger und Max von Malotki

Hörspiel des Monats September 2024

DIE RASSISTIN (1-3/6)
Von Jana Scheerer
Einrichtung: Anke Beims
Regie, Realisation, Redaktion: Steffen Moratz
Regieassistenz: Gabriel Wörfel
Mit: Luise Wolfram, Lisa Hrdina, Gisa Flake, Frauke Poolmann, Nora Schulte, Oliver Kraushaar, Leonard Scheicher
Ton: Holger König
Schnitt: Christian Grund
Produktion: MDR 2024
Länge: Folge 1/6: 26‘23‘‘, 2/6 : 26‘01‘‘, 3/6: 23‘36‘‘

Jana Scheerer, geboren 1978 in Bochum, lebt in Berlin. Nach ihrem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Medienwissenschaft arbeitete sie als akademische Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Sie war Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin und wurde 2004 für ihr erstes Buch "Mein Vater, sein Schwein und ich" mit dem Literaturpreis Prenzlauer Berg ausgezeichnet. "Mein innerer Elvis" wurde für den Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg nominiert und mit dem LUCHS ausgezeichnet.

Empfehlungen