Sandra durchblickt die weltpolitische Lage nur sehr bedingt, weiß von bestimmten Ländern nicht einmal, auf welchem Kontinent sie liegen, weiß nicht, wie man Kommata setzt, weiß nicht, in welchem Jahr ihre Oma geboren wurde, und weiß auch nicht, wie sie darauf reagieren soll, wenn ihr jemand auf der Straße hinterherruft. Sie weiß nicht, wie ihr Beruf geht, und auch nicht, wie man bügelt, sie weiß es einfach nicht.
Keiner weiß das. Außer Kassandra natürlich.
Aber Sandra redet auch drüber, weil wir sie uns ausgedacht haben, um nicht "ich" sagen zu müssen. Denn sie fragt sich, was es heißen könnte, die eigene Ahnungslosigkeit nicht als Begrenzung zu begreifen, die es zu verstecken gilt, sondern als Grundlage, um der Welt begegnen zu können. Und das in drei Vorlesungen.
Ist das eine gute Idee? Gerade jetzt, gerade hier, gerade in diesem Zustand? Sandra weiß es nicht.
Aus der Begründung der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Monats August 2020:
"‚Und wie die Welt anders denken, wenn man denkt wie die Welt, wenn man schon immer ein bisschen wird, wie es immer schon war. Sozusagen. Keine Ahnung.’
Kassandra und Sandra, das sind die Protagonistinnen des Hörspiels ‚Keine Ahnung’. Sie sind auch: zwei entgegengesetzte Denkweisen, Geisteshaltungen und Weltanschauungen. Kassandra ist fürs Verstehen zuständig, Sandra fürs Nicht-Verstehen. Getrieben vom wütenden Wunsch, alles wissen zu wollen, unternehmen die beiden Protagonistinnen den Versuch, die eigene Ahnungslosigkeit nicht als Begrenzung zu sehen, die es zu verstecken gilt, sondern als Grundlage, um der Welt begegnen zu können. ‚Vorlesungen über das Nichtwissen heißt dieses Unternehmen oder nonepistemische Vorlesungen, also epistemunlogische Vorlesungen sozusagen oder Keine-Ahnung-Vorlesungen über die Ahnungslosigkeit’, so bezeichnet die Erzählerin das wagemutige Experiment. In diesem hinterfragen die beiden Protagonistinnen traditionelle Weltordnungen sowie Formen und Konzepte von Wissensaneignung und -verbreitung. Rasant und mit vielen Wortspielen zerpflücken Sandra und Kassandra den biblischen Schöpfungsmythos, interpretieren die griechische Mythologie neu, führen einen Diskurs über Museumsdidaktik, Autor*innen- und Mutterschaft und stellen am Schluss ein agnostisches Manifest auf. Mit intelligentem Witz schafft es das Hörspiel ‚Keine Ahnung’, die Balance zwischen Unterhaltung und Erkenntnisstiftung zu wahren."
Die Dinge des Lebens
Ein Sommer mit Hörspielen und Dokus
Woche 9: Krise
Keine Ahnung
Von Nele Stuhler
Regie: die Autorin
Mit: Sophie Rois, Sarah Gailer, Paula Thielecke und der Autorin
Künstlerische Mitarbeit: Lisa Schettel
Musik: Laura Eggert
Ton und Technik: Andreas Stoffels und Sonja Rebel
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2020
Länge: 55'36
Eine Wiederholung vom 06.08.2020
Nele Stuhler, geboren in Neu Meteln und aufgewachsen in Berlin, arbeitet als Autorin, Regisseurin und Performerin, alleine und mit anderen, unter anderem an den Sophiensaelen Berlin, am Schauspiel Frankfurt, am Schauspielhaus Wien, am Schauspielhaus Graz, dem HAU Berlin und den Münchner Kammerspielen. Für ihr Theaterstück "Fische" erhielt sie 2016 den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik und 2018 den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis. 2021 erschien "Keine Ahnung" im Korbinian-Verlag.
Nele Stuhler© William Minke