Gegen den Zahn der Zeit
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Seit Ende 2020 ist das Bauhüttenwesen in Deutschland immaterielles UNESCO-Kulturerbe. Aber was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Bei einem Besuch der Bauhütte der westfälischen Wiesenkirche in Soest wird so manches Geheimnis gelüftet, das sich in und hinter den alten Steinen verbirgt.
Schon von Weitem sieht man Jürgen Prigl seine Autorität und seine Faszination für die Vergangenheit an. Nicht nur sein kamelhaarfarbener Gehrock aus Leder, sondern besonders seine markante Schiebermütze und die adrette Weste verleihen dem frisch pensionierten Dombaumeister eine stattliche Ausstrahlung. Prigl war in der Soester Kirche St. Maria zur Wiese während der vergangenen 29 Jahre sowohl Baumeister als auch Leiter der Bauhütte, in der Restaurierungsarbeiten durchgeführt werden.
Bauwerke für die Ewigkeit
In der Bauhütte arbeiten traditionell Steinmetze, Steinbildhauerinnen, Glaser und Zimmerleute daran, Großkirchen wie Münster oder Kathedralen zu erbauen oder für die Nachwelt zu erhalten. Ein berühmtestes Beispiel dafür ist der Kölner Dom, dessen Bauhüttentätigkeit sich von seiner Grundsteinlegung im Mittelalter bis heute kontinuierlich verfolgen lässt. Im Mittelalter wurde auch die Wiesenkirche in Soest erbaut und Jürgen Prigl wirkt stolz, wenn er im imposanten Kirchenschiff erzählt, dass der dritte Dombaumeister des Kölner Doms wahrscheinlich auch in Soest seine Spuren hinterlassen hat:
"Im Dunkel des Mittelalters ersehe ich nur einen Einzigen, der hier den Grundstein gelegt hat und die Planung vorgenommen hat für dieses gotische Bauwerk und für den Aufbau der Könnerschaft der originär mittelalterlichen Bauhütte. Und das muss Johannes von Köln gewesen sein."
Der Dombaumeister als Universalgenie
Die Wiesenkirche wurde, anders als der Kölner Dom, zunächst aus grünem Sandstein gebaut, was dem sakralen Innenraum einen mystischen Schimmer verleiht und seine besondere Wirkung entfaltet als der Countertenor und Kirchenmusiker Klaus Haffke ein französisches Liebeslied aus dem 13. Jahrhundert anstimmt. Unter den über 30 Meter hohen Kreuzgewölbedecken erzählt Jürgen Prigl anschließend nicht nur wie der Sandstein vor Jahrmillionen entstanden ist, sondern auch, welche materiellen Besonderheiten ihn auszeichnen. Prigl fühlt sich durch sein Wissen und das Interesse für epochale Kontinuitäten den Universalgenies, die Dombaumeister seit dem Mittelalter immer sein mussten, nah. Da wundert es kaum, dass er seine Arbeit in die Tradition der Bauhütten großer Bauwerke, wie die ägyptischen Pyramiden oder die Bauten der griechischen Antike, stellt.
Das Wissen um die Bearbeitung der Steine, um Statik und alle Fragen rund um die Erhaltung der Kirchen wird schon seit jeher in den Bauhütten vom Meister an seine Schüler weitergegeben. Es ist also eine Tradition, die vor allem mündlich und praktisch überliefert wird. Das hat das UNESCO-Auswahlkomitee schließlich dazu bewogen, die europäischen Dombauhütten im Dezember 2020 in die Liste guter Praxisbeispiele zum Erhalt des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. Die Bewerbung wurde von Bauhütten aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und Norwegen getragen. Mit den Bauhütten dieser Länder pflegt Jürgen Prigl, einer der Initiatoren der UNESCO-Bewerbung, seit Jahrzehnten guten Kontakt.
International vernetzt und verbunden
Der internationale Austausch wird von den Bauhütten schon seit dem Mittelalter geschätzt. Viele Gesellen verbringen einen Teil ihrer Lehrjahre in anderen Bauhütten, um dort die ortsspezifischen Arbeitstechniken kennen zu lernen. In der Soester Bauhütte arbeitet momentan Charles aus Frankreich. Er erzählt, dass sich die Arbeitsweise in Soest sehr von der seiner bisherigen Stationen in Frankreich unterscheidet:
"Bei der Arbeit in Frankreich habe ich mehr technische Hilfsmittel benutzt, auch bei filigranen, kleinere Arbeitsschritten kommen eher Bohrer, Sägen, Schleifer oder andere pneumatische Geräte zum Einsatz. Hier in Soest finde ich den traditionelleren Ansatz gut. Ich kann handwerklich sauber und mit Hammer und Meißel direkter am Stein arbeiten. Das dauert zwar länger, ist aber angenehmer."
Die reisenden Gesellen lernen nicht nur Neues vor Ort, sondern bringen auch immer eigenes Wissen aus dem Ausland mit. So kam im Mittelalter der damals neue gotische Formenkanon aus Frankreich nach Deutschland und löste die Epoche der romanischen Kirchen ab. Von nun an strebten die Kirchen in die Höhe zu Gott, wirkten mit ihren schmalen Säulen filigraner und zerbrechlicher, durch ihre schiere Größe aber auch Ehrfurcht gebietend. Sie sollten das Abbild des himmlischen Jerusalems auf Erden sein und ihr Bau nahm Jahrhunderte in Anspruch. Nachdem Jürgen Prigl mit dem Fahrstuhl den 60 Meter hohen Nordturm der Wiesenkirche erklommen hat, lüftet er einige Geheimnisse, die ihn mit den alten Steinen verbinden.
Nachrichten an zukünftige Generationen
Bei der möglichst originalgetreuen Wiederherstellung einzelner Bauteile, erarbeitet der Steinmetz eine Kopie des ursprünglichen Steins. Manchmal sind jedoch so wenig Zeugnisse der originalen Formen erhalten, dass Fantasie gefragt ist. Wie etwa bei den Chimären, mythologischen Wesen, die gerade in der Soester Bauhütte erstellt werden:
"Das sind so Mischwesen aus Drache, Ziege und Löwe. Und da sind dann auch Antlitze, die natürlich an Menschen angelehnt sind. Da kann ich jetzt nicht garantieren, dass das eine oder andere Konterfei nicht mal inspirierend wirkt. Da kommt schon der eine oder andere so ein bisschen dran, man muss ja auch Dinge verarbeiten", erzählt der ehemalige Bauhüttenmeister mit einem verschmitzten Lächeln.
Nicht nur in den bildhauerischen Werken, auch im Bauwerk selbst hat Jürgen Prigl seine Spuren hinterlassen. Er erzählt, dass sich hinter einem unauffälligen Stein mit der Inschrift "1999 n. Christus, zur Rekonstruktion an diesem Turm ist der Stein gelegt. Gott schütze uns" ein Computer-Prozessor aus dem Jahr 1999 befindet, sowie Zutaten des westfälischen Abendmahls. Das bezieht sich auf ein Fenster in der Wiesenkriche, das das letzte Abendmahl mit regionalem Einschlag darstellt, weil hier auch westfälische Spezialitäten auf dem Tisch stehen. "Die Hightech Produkte, die sind heute schon wieder längst überholt. Aber Pumpernickel und Bier, das braucht man noch. Das haben wir dann auch mit einer textlichen Botschaft von mir da verewigt. Das wird viel länger überdauern, als alle Archive", ist sich Jürgen Prigl sicher.
Immaterielles Erbe für die Zukunft sichern
Das Beispiel der Bauhütten zeige, dass immaterielles Wissen und materielle Bauwerke sich nicht nur gegenseitig ergänzen, sondern das eine ohne das andere gar nicht denkbar sei, erklärt der Denkmalschützer Jörg Haspel. Insgesamt 18 europäische Bauhütten wurden in die Liste der guten Praxisbeispiele für die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Die Bauhütten sind in Teilen direkt an Weltkulturerbestätten wie das Straßburger Münster, der Kölner Dom oder auch die Altstadt von Lübeck angesiedelt.
Haspel ist Ratsvorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz und erklärt wie der Auswahlprozess für Welterbestätten abläuft, wer international darüber entscheidet was immaterielles Kulturerbe ist und warum es im globalen Norden mehr Weltkulturerbestätten gibt, während im globalen Süden das immaterielle Kulturerbe überwiegt und manche Länder überhaupt kein Weltkulturerbe verzeichnen können. Außerdem stellt er das Projekt der Jugendbauhütten vor, in denen Jugendliche im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres gemeinsam nach dem Vorbild der mittelalterlichen Bauhütten handwerkliche Tätigkeiten erlernen: "Wir glauben, dass es ein wichtiger Beitrag ist, um das konservatorische Anliegen weiterzuvermitteln und auch das Anliegen der Welterbekonvention, also der UNESCO, Jugendlichen mit auf den Weg zu geben. Dabei wollen wir deutlich machen, dass die Schonung der vorhandenen Ressourcen ein ganz wichtiges Ziel ist auch als Beitrag gegen den Klimawandel oder zur Minderung der Auswirkungen des Klimawandels."
Erstsendung 02.04.2021