„Erinnern ist eine Art zu leben“
46:31 Minuten
Jürgen Beckers Werk ist geprägt durch die Arbeit an der Erinnerung.
Gegenwart und Vergangenes überlagern sich und erzeugen eine faszinierende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Thomas Böhm hat die Gedanken des Autors bei einem Gespräch in diesem April aufgezeichnet – ein außerordentliches Selbstportrait und Zeugnis der lebendigen Selbstreflexion.
Magie des Radios
Jürgen Becker:
"Das hat in meiner Kindheit angefangen. Als kleiner Junge war ich fasziniert vom Radio, von der Skala, auf der man die Namen der Sender noch lesen konnte. Das waren Namen von Städten irgendwo in Europa. Kalundborg, Beromünster, Lyon, Amsterdam. Alle Städte, deren Namen man zum ersten Mal hörte. Und für mich war es ein Abenteuer, meist abends in einem dunklen Zimmer vor dieser erleuchteten Scala zu sitzen und mit dem Knopf hin und her zu fahren. Zu hören, was aus Kalundborg oder aus Beromünster kam. Oft nur ein Rauschen oder eine ferne Stimme. Die Antennen waren noch nicht so entwickelt, dass man einen wunderbaren UKW-Empfang überall hatte. Aber es kam etwas. Ein Geräusch und eine Stimme. Auf die Art und Weise habe ich das, was damals verboten war während des Krieges, auch die sogenannten Feindsender entdeckt. BBC London. Was sich kenntlich machte durch das Bum, bum, bum, bum oder auch Radio Luxemburg. This is a station of the United Nation. Das hatte ich zufällig entdeckt. Und obwohl ich wusste, es ist verboten. Am Radio hing immer ein Knopf, am Knopf an ein Schild, weiß nicht mehr den Inhalt, aber jedenfalls stand darauf, dass Feindsender-Hören verboten sei. Und ich hörte da meinen ersten Jazz. Und einmal hörte ich Nachrichten von Radio Luxemburg mit der Stimme: Die Amerikaner stehen acht Kilometer vor Köln. Den deutschen Nachrichten zufolge, die ich auch hörte, war man gerade erst in Aachen. Das beschäftigte mich. Ich lebte damals in Thüringen während des Krieges, in Erfurt, und hatte natürlich immer ein Kontakt auch zu meiner Heimatstadt und hörte nun, wie nahe der Feind vor meiner Heimatstadt steht.
"Das hat in meiner Kindheit angefangen. Als kleiner Junge war ich fasziniert vom Radio, von der Skala, auf der man die Namen der Sender noch lesen konnte. Das waren Namen von Städten irgendwo in Europa. Kalundborg, Beromünster, Lyon, Amsterdam. Alle Städte, deren Namen man zum ersten Mal hörte. Und für mich war es ein Abenteuer, meist abends in einem dunklen Zimmer vor dieser erleuchteten Scala zu sitzen und mit dem Knopf hin und her zu fahren. Zu hören, was aus Kalundborg oder aus Beromünster kam. Oft nur ein Rauschen oder eine ferne Stimme. Die Antennen waren noch nicht so entwickelt, dass man einen wunderbaren UKW-Empfang überall hatte. Aber es kam etwas. Ein Geräusch und eine Stimme. Auf die Art und Weise habe ich das, was damals verboten war während des Krieges, auch die sogenannten Feindsender entdeckt. BBC London. Was sich kenntlich machte durch das Bum, bum, bum, bum oder auch Radio Luxemburg. This is a station of the United Nation. Das hatte ich zufällig entdeckt. Und obwohl ich wusste, es ist verboten. Am Radio hing immer ein Knopf, am Knopf an ein Schild, weiß nicht mehr den Inhalt, aber jedenfalls stand darauf, dass Feindsender-Hören verboten sei. Und ich hörte da meinen ersten Jazz. Und einmal hörte ich Nachrichten von Radio Luxemburg mit der Stimme: Die Amerikaner stehen acht Kilometer vor Köln. Den deutschen Nachrichten zufolge, die ich auch hörte, war man gerade erst in Aachen. Das beschäftigte mich. Ich lebte damals in Thüringen während des Krieges, in Erfurt, und hatte natürlich immer ein Kontakt auch zu meiner Heimatstadt und hörte nun, wie nahe der Feind vor meiner Heimatstadt steht.
Es hat etwas Magisches. Etwas, ja, etwas was, was die Fantasie, was die Imagination sehr anregte. Und dieses Motiv ist dann gelegentlich in meine Gedichte eingegangen. Und sicher ist es auch dazu gekommen, dass ich zum Rundfunk, zum Radio eben, sehr früh dieses Verhältnis bekam. Ich konnte seinerzeit in Köln im Kindergarten, in den dreißiger Jahren hatten wir öfters einen Auftritt in der Dagobertstraße beim Westdeutschen Rundfunk. Dass unser Kindergarten dort, ein paar Jungs vor Mikrophon standen und sangen Lieder oder erzählten Geschichten und, und das war schon immer, von jeher ein Abenteuer gewesen, nicht? Ins Funkhaus zu fahren und dort Radio zu machen. Und zu Hause hörten die Eltern, die Großeltern zu und waren ganz stolz, dass sie ihren Sohn hatten hören konnten. Es wurde noch live gesendet so etwas."
Kölner Kindheit
"Wenn ich an meine Kölner Kindheit zurückdenke. Dreißiger Jahre, vierziger Jahre noch, ja dann beginnen diese Erinnerungen im rechtsrheinischen Köln. Dort bin ich aufgewachsen, in einem Vorort namens Dellbrück, und dieser Vorortteil war verbunden mit der Stadt durch die Vorort -Linie G. Die kam von Gladbach, Bergisch Gladbach. Nach Köln fahren hieß immer, eine lange, über eine halbe Stunde dauernde Reise mit der Elektrischen zu machen. Das war aufregend, wenn das ländliche Rechtsrheinische so langsam überging ins Städtische, ins Vorstädtische, Vorortsnamen wie Mülheim, Deutz und dann der Rhein. Das war das große Erlebnis, über die Rheinbrücke zu fahren, den Rhein zu sehen, den Dom zu sehen, die Silhouette der Altstadt und am Heumarkt oder Neumarkt auszusteigen. Aber das war selten. Und so blieb Köln, die Stadt Köln, die City, für mich immer etwas Fernes, etwas Fremdes, in das ich manchmal mit hineindurfte. So ist meine Kölner Erinnerung eigentlich immer nur eine rechtsrheinische. Es war immer eine Entdeckung, die Umgebung von Dellbrück kennenzulernen. Da fingen Wälder an, nicht. Die schier endlos schienen nach Osten hin. Die Schluchter Heide war so ein Wald. Oder es war der Strunder Bach, ein stinkender Bach voller Unrat, nicht? Dann war dort die Firma, in der mein Vater arbeitete. Firma Wolter, nicht, die war sehr wichtig im Ort, weil die meisten Menschen dort die Arbeit fanden."
Linien der Biografie
"Und diese Firma ist eigentlich der Grund, warum ich mich gibt, nicht? Denn als mein Vater dort 1922 anfing, seine erste Stelle als Ingenieur anzutreten, lernte er dort eine Sekretärin kennen, die vom Personalchef, und mit der fing er ein Verhältnis an und die hat er dann geheiratet, und das war meine Mutter. Wäre mein Vater zu einer anderen Firma gegangen, in andere Stadt, hätte er eine andere Frau kennengelernt und ich wäre ein anderes Lebewesen geworden. Und deshalb sind solche Orte, eine Fabrik oder eine Vorstadt oder die Biografie der eigenen Eltern zunehmend wichtig geworden für meine eigene Existenz, an der dann nichts zufällig mehr erscheint, sondern es ist so und so gekommen und das eine hat das andere ergeben. Und die Linien einer Biografie gehen dann durch solche Geschichten, durch die Biografie in andere Menschen, durch Städte, durch Orte. Und sie führen zu dem Augenblick hin, in dem man sich gerade befindet."
Freiheit im Garten
"Dieser Garten der Großeltern war für mich so ein Ort, wo ich so das Gefühl hatte: Hier, hier bin ich frei, nicht? Das Haus verlassend über den Hof, dann kam ein Weg an einer Wiese vorbei, dann kam ein Platz mit einer Laube. Und dann fing der eigentliche, lange, 120 Meter lange Bereich an, in dem nun viele Büsche standen und Beete waren und Bäume. Und wo ich spielte, wo ich mir immer irgendwelche da half mir mein Großvater bei, Hütten baute, Löcher buddelte, wo ich auf die Bäume stieg. Ich hatte dort sehr viel Freiheit. Ich durfte bestimmte Beete, da durfte nicht drüber trampeln, das wusste ich. Die Gemüsebeete und so, aber da waren immer wieder Zwischenräume mit Stachelbeeren und Johannisbeerbüschen, so ganz ohne Heckenbereiche, in denen man verschwinden konnte. Und oft, wenn meine Mutter mich suchte oder rief, da musste sie den Garten kommen, weil ich mir einen Spaß daraus machte, irgendwo hinter einer Buschreihe oder in einem Erdloch mich zu verstecken. Das war so ein Spiel. Oder wenn ich Ärger hatte zu Hause, dann lief ich raus in den Garten und verschwand. Ich hatte das Gefühl, hier im Garten, da findet mich keiner. Hier kann ich mich zurückziehen. Und insofern ist dieser Garten für mich dann beispielhaft für viele andere Gärten geworden. Später. Es ist der Garten hier hinterm Haus, aber es ist vor allen Dingen das Gartengelände im Bergischen Land in Odenthal, wo meine Frau, Rango Bohne, ihre Kindheit verbracht hatte, in einem 200 Jahre alten Fachwerkhaus, einem kleinen Gehöft, das ihre Eltern Anfang der dreißiger Jahre gekauft hatten und wo sie als Mädchen die meiste Zeit ihrer Kindheit verbrachte, vor allen Dingen auch während des Krieges. Wenn später in meinen Texten, in meinen Gedichten und so weiter bestimmte Motive auftauchen, dann sind das alles so die Wahrnehmungen, die ich in diesem Feld- und Gartengelände gemacht habe."
Als das Dorf noch Dorf war
"Ich habe als Kind noch kennengelernt die rein dörfliche Architektur. Da war ein Dorf ein Dorf, ein Vorort ein Vorort, eine Vorstadt, eine Vorstadt eine Vorstadt und die Innenstadt das Zentrum, eine richtige Stadt. Das war noch klar voneinander geschieden. Diese Unterschiede gibt es nicht mehr. Dörfer sehen heute nicht mehr aus wie Dörfer, sie sind Ballungsräume, Vororte, Vorstädte schmelzen zusammen. Und das, was früher auch den Unterschied zwischen Land- und Stadtbevölkerung bestimmte, gibt es längst nicht mehr. Das ist die Entwicklung der 50er, 60er und der späteren Jahrzehnte, dass diese Unterschiede verschwunden sind. Ich suche immer noch nach diesen Unterschieden. Die sind ja immer wieder kenntlich an Resten, an Resten von alten Siedlungsformen, wie sie in den Vororten noch auftauchten und die mir immer noch etwas erzählen von einem Einst, von einer Lebensweise, die auch noch sehr unterschiedlich war. Wer auf dem Land lebte, trug andere Klamotten als die Kinder in der Stadt. Das Essen auf dem Land waren ein anderes als das in der Stadt. Und diese Unterschiede, wie gesagt, sind alle weg. Aber ich erinnere mich an Zeiten, wie es einmal gewesen ist. Nicht immer so im nostalgischen Sinne. Es ist nicht so, dass ich Häuser wiederhaben möchte, in denen noch kein Strom war. Das Haus in Odenthal war seinerzeit noch ohne elektrischen Anschluss."
Spuren von Geschichten
"Aber ich möchte sozusagen immer mehr bewusst machen diese Spuren von Geschichten, die durch unser Leben ziehen, von der persönlich erlebten Geschichte und von der offiziellen, der politischen Geschichte auch - das hängt ja zusammen. Und diese Spuren, dieses Suchen nach Spuren fängt bei mir zu Hause an, in dem Haus, in dem ich lebe, oder in dem Dorf, in dem ich auch lebe, in Odenthal. Und ja, was ist da noch kenntlich, was ist wiederzufinden oder was ist erinnerbar? In der Regel sind die Spuren ja nicht mehr konkret vorhanden. Und da setzt dann Erinnerung ein. Nicht? Erinnerung ist das, was das Gedächtnis mobilisiert. Gedächtnis ist so ein riesiges Repertoire, das man in Bewegung bringen muss durch Erinnerung. Erinnern ist eine Art, zu leben. Auch das nicht so im nostalgischen Sinne, sondern es geht um die Vergegenwärtigung von etwas, was heute der Augenblick ist. Dieser Augenblick jetzt hat seine Geschichte. Diese Geschichte ist eine Woche alt oder ein Jahr oder zehn Jahre oder 50 Jahre. Ich beschränke mich auf die Geschichte, die ich selber erlebt habe, und ich weiß, dass jeder Augenblick meines Lebens irgendeinen Hintergrund hat und dass auf diesem Hintergrund eine noch sichtbare oder inzwischen unsichtbare Spur führt. Und das zu vergegenwärtigen, das ist Erinnerungsarbeit."
Schreiben als Bewusstseinsarbeit
"Das heißt, ich spreche die ganze Zeit über die Arbeit des Schreibens. Schreiben ist für mich das Herstellen von Erinnerungen, das Vergegenwärtigen von etwas, was nicht mehr da ist und was zugleich doch noch sich spürbar macht. Es gibt keinen Augenblick heute, der nicht von einem Früher bestimmt oder überschattet wird. Und diesen Zusammenhang herzustellen, das ist für mich eben auch diese Bewusstseinsarbeit, um die es mir beim Schreiben geht. Bewusstseinsvorgänge, in denen sich das abbildet, was in der Wirklichkeit geschieht oder geschehen ist. Angefangen habe ich mit Gedichten. Ich war 17 Jahre alt und unglücklich verliebt und schrieb mir meinen Kummer von Herzen mit einem ersten Gedicht. Und merkwürdigerweise entstand danach ein zweites Gedicht, dies noch im, wo ich damals eine Zeit lang wohnte, im Haus der Großeltern wieder, in einem Zimmer mit Blick auf den Garten. In diesem Garten stand der Mond. Es war eine Mainacht. 2. Mainacht. Lieblich war die Mainacht beim klugen berühmten Gedicht von Nikolaus Lenau. Und das war so ein erster Impuls. Merkwürdigerweise wiederholte sich das. Ich war längst nicht mehr verliebt. Ich schrieb weiterhin Gedichte und vor allen Dingen dann, wenn ich eigentlich hätte nachmittags Schulaufgaben machen müssen. Ich war eigentlich ein fauler Schüler, und den Nachmittag mit Schulaufgaben zu verbringen, das machte mir keinen Spaß. Viel eher machte es mir Spaß, in einem Heft, das ich angelegt hatte, Gedichte zu schreiben und die dann abzutippen auf der alten Reiseschreibmaschine meines Vaters. Diese Gedichte waren natürlich völlig epigonal."
Frühe Einflüsse
"Der erste große Einfluss war Rainer Maria Rilke. Wenig später entdeckte ich Gottfried Benn und da kam der zweite Einfluss hinzu. Und da standen nun zwei Schreibweisen sich gegenüber: Rilke und Benn. Und ich merkte, dass der Sound vom Benn doch der Stärkere war. Aber auch das war alles noch epigonal. In dieser Schulzeit, während der letzten Schuljahre, beschäftigte mich das eigene Schreiben mehr als die Schule. Und es war fast wie eine Flucht vor der Schule auch. Und ich merkte, man kann sich ins Schreiben zurückziehen. Man kann vor etwas fliehen, was unangenehm ist. Dass das Schreiben selber dabei plötzlich Probleme mit sich brachte, die ich vorher nicht kannte, war dann auch eine neue Erfahrung. Aber über diese Erfahrung wollte ich mich stellen. Ich ging damals oft ins Theater in Köln und da gab es schon die Einflüsse von Tennessee Williams und Sartre. Und ich fing an, Theaterstücke zu schreiben. Und ich las damals schon auch, was man damals so las, von Böll bis Hemingway und ich merkte plötzlich, dass auch das Erzählen mir Spaß macht. Wobei dann der Einfluss von Hemingway sehr stark wurde und wo ich merkte, dass Schreiben mich eigentlich am meisten interessiert. Und im Zusammenhang damit damals, in der Zeit, wo ich überhaupt entdeckte, was Kunst ist, bildende Kunst, die damals zeitgenössische Kunst, die mich sehr anzog. Ich ging regelmäßig in Köln zu den Vernissagen der Galerie Der Spiegel, wo immer man sah, wie heute gemalt wird. Das beeinflusste mich sehr. Und dann kam die Musik dazu, in den fünfziger Jahren, als Köln die Hauptstadt der Neuen Musik wurde und ich anfing, Neue Musik zu hören. Aber zuvor hatte ich selbst schon den Wunsch noch, ich glaube, wenn ich anfange zu studieren, muss das etwas mit Kunst zu tun haben, mit Theater, mit Literatur.
Und das soll alles darauf hinauslaufen zu einer literarischen Existenz, weil ich wollte freier Schriftsteller werden. Und als ich dann anfing, zu studieren, nach dem ersten Jahr, merkte ich: Das, was ich hier erfahren möchte, erfahre ich nicht. Das lenkt mich nur ab. Und ich hörte auf, zu studieren."
Erste Veröffentlichungen
"Und weil ich damals das Glück hatte, die ersten Gedichte veröffentlichen zu können in der damals noch existierenden Neuen Zeitung, das war eine Zeitung der amerikanischen Besatzungsmacht, die das beste Feuilleton hatte damals. Erich Kästner war der erste Feuilletonchef und da wurde ein Gedicht mit 30 D-Mark bezahlt. Und dann brachte die Frankfurter Allgemeine ein erstes Gedicht, es gab auch 30 Mark und dann ein kleines Prosastück in der Neuen Zeitung und später in der FAZ bekam man 60,70, 80 Mark dafür. Ich merkte also, ich kann davon leben. Ich meinte, ich könnte davon leben. Natürlich konnte ich es nicht, denn so viel ich rumschickte, so viel kam auch zurück. Denn, was ich schrieb, war sicher immer noch reichlich epigonal. Das war also dann, das ging so jahrelang, fünf Jahre lang, mein Lebensunterhalt - ich war damals zum ersten Mal verheiratet, hatte eine Kommilitonin geheiratet, die dasselbe im Kopf hatte wie ich. Ja, bis ich dann, das war Ende der 50er Jahre, das Glück hatte, beim Westdeutschen Rundfunk eine erste Sendung unterzubringen, und eine zweite und eine dritte. Da konnte man noch kleine Radioessays schreiben über irgendwelche Dinge, die einen interessierten und ich hatte einen Redakteur, Roland Wiegenstein, der mich aufforderte, mit Ideen zu kommen und mich eigentlich am Schreiben hielt und so konnte ich als freier Mitarbeiter eigentlich damals so viel Geld verdienen, dass es ganz gut ging, als freier Autor, als Rundfunkautor zu leben, Rezensionen, Buchkritiken. Ich hatte monatlich eine Sendung, wo ich eine neue Zeitschrift vorstellte. Dann konnte ich jede Woche ein neues Buch vorstellen. Da gab es damals im WDR, das hatte ich initiiert, das literarische Studio, da bekam ich dann sogar ein Fixum monatlich für ein paar Jahre."
Experimentelles Schreiben
"Also ich hatte erreicht, was ich immer erreichen wollte, nämlich eine literarische Existenz zu führen. In meinem Schreiben hing ich noch lange Zeit in den alten Kategorien fest, Lyrik, Prosa. Und da gab es Einflüsse und Vorbilder. Und ich merkte immer, ich rekapituliere eigentlich nur das, was von außen kommt, was ich gelesen habe oder so und das stimmt eigentlich nicht so sehr überein mit dem, was ich nun selber empfinde oder wahrnehme, was in meinem Bewusstsein vor sich geht. Und das führte irgendwann zu einem Bruch, wo ich merkte: So kann ich nicht weiterschreiben. Und dann habe ich eine Weile gar nicht geschrieben und fing dann erst wieder an, auf eine Weise, die man damals experimentell nannte. In den 60er Jahren, wo ich versuchte, diese einzelnen Schreibimpulse, die in ein Gedicht führen oder in ein Prosastück, in eine Erzählung oder in ein Gedicht, in eine Szene hinein. Diese Impulse zu fusionieren, zusammenzuführen, also Gattungen im Grunde einzuschmelzen in der Literaturgeschichte. Nichts Neues, aber ich entdeckte das für mich neu und versuchte mich in dieser Weise. Das war dann auch mein erstes Buch, Die Felder, 1964 erschienen, wo ich diese Verschmelzung von Gattungen zum ersten Mal praktizierte. Folgten zwei weitere Bücher, bis ich merkte :Das führt nun auch nicht weiter und das Dereglement wird zur Regel. Und das Vermeiden von Konventionen wird selber zur Konvention. Ich kam nicht weiter und merkte nur :Die Impulse sind ja noch da. Der Impuls, etwas zu erzählen in einer Prosa oder vor allen Dingen der Impuls, Gedichte zu schreiben - und die Impulse habe ich wieder freigelegt. Und ich fing dann tatsächlich wieder an, in den 70er Jahren ein Gedicht zu schreiben oder Prosa zu schreiben."
Vermischte Gattungen
"Und das hat sich fortgesetzt bis heute. Dass, obwohl manches Gedicht sich wie Prosa liest oder manches Prosastück von mir sich wie ein Gedicht liest, eigentlich sind die Gattungen immer noch sehr vermischt, aber dennoch trenne ich zwischen den Bereichen nicht, weil oft ganz andere Erfahrung dahintersteht, andere Wahrnehmungen, solche, die eher zu einem Gedicht führen, und solche, die in ein Prosastück führen. Ja, und dazu kam etwas, was ich immer noch im Kopf hatte auch, es ist so vieles hörbar, was ich im Text, in der Schrift nicht darstellen kann. Und das führte mich dazu, das Hörspiel zu entdecken, neu zu entdecken. In der frühen Phase hatte ich zwar auch Hörspiele versucht, unter dem Einfluss von Günter Eich. Aber das misslang. Nein, ich konnte jetzt - es war in den in den 60er Jahren mich auf die Elemente eines Hörspiels besinnen. Woraus besteht ein Hörspiel? Aus Sprache? Aus Geräusch? Und was kann ich mit diesen Materialien, mit diesen Elementen anfangen? Und das versuchte ich, und das war damals auch so ein Trend, die Zeit des sogenannten Neuen Hörspiels. Ich bin nicht so weit gegangen. Es gibt zwar ein Hörspiel, das nur aus Geräuschen besteht, aber es bleibt dann doch zu vieles liegen. Ich merkte, es sind ja auch Geschichten. Erfahrungen, die erzählt werden wollen, für die ein Hörspiel das richtige Medium ist. Weil, es sind Figuren, es sind Personen, die sich da einstellen. Meine eigene oder Personen aus dem eigenen Leben, kam die Biografie wieder hinzu und ich merkte, dass sich eine Geschichte auf akustische Weise erzählen ließ, mit Stimmen, mit raschem Ortswechsel und Weite. Und das auch immer wieder versehen mit Geräuschen, die auf ihre Weise die Geschichte weitererzählen. Und das blieb dann doch lange Zeit für mich - auch in der Zeit, als ich noch freier Schriftsteller war, weil der Rundfunk gut bezahlte auch - eine weitere Möglichkeit, diese literarische Existenz zu führen. Denn mit meinen Gedichtbänden habe ich nie so viel Geld verdient, um davon leben zu können. Aber man konnte von Hörspielen leben und das wussten sehr viele Schriftsteller, die einfach vom Rundfunk lebten. Das ist für mich dann eben ein Medium geworden, was ein künstlerisches ist und zugleich eines, was den Autor am Leben hält."
Der Schriftsteller als Archäologe
"Ich bin nicht von morgens bis abends Dichter. Es vergehen Tage und Wochen, da schreibe ich kein Wort. Es ist ja nicht so, dass ich mich hinsetze und sage: Ich schreibe ein Gedicht. Nein, ein Gedicht - es kommt plötzlich so ein Impuls angeflogen. Das kann in der Straßenbahn sein, nicht, oder das kann im Supermarkt sein. Oder das kann sein, wenn ich auf der Wiese liege, oder... Das gehört eben auch zur literarischen Existenz, so dass das alltägliche Leben, was völlig banal so dahin geht, plötzlich aufgefüllt ist. Ja, was, Joyce nannte es Epiphanien, Virginia Woolf sprach von glimpses. Also diese Augenblicke, die ein Künstler, die ein Schriftsteller erfährt, wo er plötzlich einen Einfall hat, wo, wo etwas kommt, wo er sagt, das ist es nicht. Und hier trifft mich etwas. Hier höre ich ein Wort. Oder hier höre ich, dass irgendwie ein Satz spricht, der weitergeführt werden möchte. Denn - die Erfahrung habe ich auch bei der Zeit gemacht - die Gedichte, die ich schreibe, die erfinde ich eigentlich gar nicht. Die sind eigentlich alle schon da. Irgendwo in mir sind sie vorhanden, ich muss sie nur entdecken. Und das gehört dann mit zur literarischen Existenz, dass ich das, was in mir verborgen ist an Text, an Wörtern und Sätzen, dass ich das finde, dass ich das frei lege und aufschreibe. Schreiben ist für mich weniger eine Sache des Erfindens als eben eine Sache des Entdeckens gewesen, das Entdecken, was in mir vorhanden ist an Erfahrung oder eben auch an, ja an einem versteckten Text. Und so komme ich mir oft wie ein - ich habe es schon ein paarmal gesagt - wie ein Archäologe vor, der in sich nach dem sucht, was da irgendwie verschüttet, verborgen ist und was man freilegen muss."
Inspiration durch Fotografie
"Oft helfen Fotografien dabei. Die Fotografie ist ja ständig eine Quelle von Erkenntnis, für mich ein Medium der Geschichte. Fotos erzählen mir etwas, entweder aus meinem eigenen Leben, was früher einmal war oder erzählen mir etwas von Ländern oder Orten oder Menschen, die ich nicht kenne, aber die ich jetzt kennenlerne. Durch das Foto. Das Foto als eine zweite Art von Wirklichkeit. Wobei man natürlich nie wissen kann, was das Foto sagt. Denn wenn das Foto scheinbar eine Wirklichkeit mir vermittelt, dann ist doch über das Drumherum dieses Fotos nichts gesagt. Das Foto ist ein Moment, aber vorher ist ein Film gelaufen und hinterher läuft der Film weiter. Und das Foto ist so der Ausschnitt. Und so viel das Foto mir sagt, so wenig sagt es mir. Und umso mehr regt es meine Imagination aber wieder an! Und so entsteht dann oft ein Film, der aus verschiedenen Fotos entsteht und das dann so etwas erzählt im Zusammenhang auch mit dem Garten, dem Garten der Großeltern. Da gibt es immer wieder Fotos, die ich gefunden habe, wo die Familie vor der Laube sitzt und die Familie, die ist dann oft sehr groß. Da kommen plötzlich Verwandte zum Vorschein, die man gar nicht so genau kennt. Oder es sind Nachbarn dabei oder sind Freunde dabei? Und dann fragt man sich: Wer ist das? Wer war das? Was ist aus dem geworden? Was ist aus jenem geworden? Ich erinnere mich an ein Foto. Da sind zwei Mädchen zu sehen, von denen ich wusste, das sind jüdische Mädchen. Das Foto, selbe Situation ein Jahr später, da fehlen die Mädchen. Viel, viel später weiß ich, warum sie fehlen. Als Kind habe ich nicht wahrgenommen, warum plötzlich diese Mädchen nicht mehr da waren. Aber das Foto dann später sagt mir: Oh, in der nächsten Umgebung hat es Mädchen gegeben, die man ein Jahr später nicht mehr wiedersah. Durch Fotos entsteht die Erfahrung von Geschichte, die man nicht persönlich erlebt hat, aber die das Foto mir dann erzählt. Und das geht ja bis heute. Alle Kriegsfotos, die wir sehen und zu sehen bekommen, erzählen uns von diesen Vorgängen, die wir persönlich nicht erfahren. Wobei solche Fotos, aktuelle Fotos, mir natürlich sofort wieder die Erinnerung holen, zurückholen an den Krieg, den ich selber erlebt habe."
Tod der Mutter
"Mit dem Leiden. Ich habe ja nun nicht jeden Tag gelitten und als Kind schon mal gar nicht . Worunter ich wirklich litt, das war die Scheidung meiner Eltern 1943, da war ich elf Jahre alt, und der dann sich hinziehende Kampf zwischen meinen Eltern. Das Gericht hatte mich dem Vater zugesprochen, ich wollte zur Mutter, sonntags durfte ich sie besuchen und dann musste ich aber auch am Abend wieder zu Hause sein. Und wehe, ich blieb dann doch mal eine Nacht länger bei der Mutter. Ja, da wurde der Vater sehr zornig. Der hatte dann sehr schnell ein zweites Mal geheiratet. Eine alte Jugendfreundin aus seinem Dorf, wo er herkam. Und mit der schien ich zunächst zurechtzukommen, aber mit ihr kam ich dann doch gar nicht zurecht. Dann der Tod meiner Mutter. 1946, ein Jahr nach dem Krieg. Morgens um sechs ging sie hinaus in den See zum Schwimmen. Hieß es offiziell. Ich wusste genau, meine Mutter kann gar nicht schwimmen. Die war wasserscheu. Also, die Umstände dieses Todes offiziell: Herzschlag beim Baden. Aber das stimmt nicht. Das glaube ich nicht. Meine Mutter ist nach meinem Verständnis freiwillig hinausgegangen, weil sie nicht leben wollte. Da waren noch so Privat-Geschichten schuld. Und das Letzte? Ich hatte sie zum Bahnhof gebracht. In Erfurt fuhr ich nach Cottbus zu einem Freund, der aber verheiratet war. Und die ganze Geschichte habe ich in einem Hörspiel mal erzählt, Im August ein See, und in meinem Roman kommt es ja auch vor. Aber jedenfalls dieser Tod und gerade dieses nicht Aufgeklärte, das Gefühl, ich werde belogen wieder. Das hat mich sehr ... beschäftigt mich bis heute noch. Kommt ja in allen möglichen Gedichten immer wieder vor. Ja, dann ein Jahr später, als die zweite Frau meines Vaters nach Waldbröl wollte, wo ihre Mutter lebt, die 70. Geburtstag hat; mit einem Freund geht sie über die grüne Grenze im Harz und wird bei dem Grenzübertritt erschossen. Wieder ein Schock. Mein Vater und ich nun alleine und da mussten wir sehen, wie wir zurechtkommen. Bis dann seine dritte Frau auftauchte, die uns dann sehr geholfen hat, meinem Vater vor allen Dingen, über die Runden zu kommen."
Geteiltes Leid
"Also, wenn wir von Leid sprechen, ich habe als Kind mehr unter diesen persönlichen Schlägen gelitten als unter Kriegseinwirkungen. Das haben ja alle erfahren. Krieg, Nachkrieg, zu wenig zu essen haben, maggeln gehen, klauen gehen. Und so weiter. Das war ein Teil, nicht? Das war eine Erfahrung. Man musste den Kopf einziehen und... Ich erlebte einmal, wie eine Granate über mich einschlug und in einen Kübelwagen einschlug und so, da ich mich hingeworfen hatte. Wer also nicht jetzt unter den Zeitgenossen damals jetzt betroffen war, dass der Vater gefallen ist oder der Sohn oder der ausgebombt war - ich glaube, das Leid hielt sich in Grenzen. Man wollte in jedem Fall den Krieg erst mal gewinnen und dann musste man eben Opfer bringen. Als das nun nicht mehr abzuwenden war, als man merkte, man hat den Krieg verloren und als dann tatsächlich der Krieg offiziell verloren war - ich weiß nicht, ob die Leute nun alle gelitten haben. Sie haben sich auch nicht befreit gefühlt. Sie wussten nur: Wir sind besiegt worden. Und so fühlte man sich auch behandelt, als Besiegte. Und dann vielleicht sogar zu Recht. Sieger tun das, was ihnen gefällt. All die Jahre, die Jahrzehnte dann. Ich bin nie in der DDR gewesen, nachdem wir 47 rüber sind, mein Vater und ich, nicht so ganz freiwillig ,wusste ich, hier gehe ich nicht mehr hin zurück. Und das war soweit auch in Ordnung, weil als ich im Westen hier war, ich mich dem Westen gegenüber öffnete, da fing dann der Einfluss von Literatur und Kunst an und das war immer nur der Westen. Aus dem Osten kam nichts, nichts war stand mit dem Rücken zum Osten. Ich merkte nur, da gibt es jetzt wieder die Erinnerungen, die von alleine hochkommen. Wie war das in Erfurt in der Schulzeit und die Mutter und damals an der Ostsee mit der Tante Margret und in Berlin, ich merkte, das ist alles vorbei, das ist hinter mir und da ist was abgeschnitten worden. Und damit kann ich nicht korrespondieren. Ich konnte wieder korrespondieren mit Großmutters Garten, weil ich, als ich aus Erfurt nach Köln zurückkam, da war alles da, war alles wieder. Ich war zwar inzwischen erwachsen, aber ich konnte korrespondieren."
Tote Erinnerung
"Aber mit den Jahren zuvor, das war eben wie eine tote Erinnerung, nicht? Und na gut, ich will nicht sagen, ich hätte nun gelitten an der deutschen Teilung. Nur sie war für mich immer weniger selbstverständlich. Zunächst hat man ja gedacht: Gut, das ist die Folge des Krieges, den haben wir selber verursacht, und das ist die Strafe dafür. Also, ich weiß, wie der Boris zu mir sagte, wie wir in Berlin vor der Mauer standen und er in Berlin studierte, 82: Und die Mauer, wie lange wird die stehen? Ich sag: ich werde es nicht mehr erleben, dass sie verschwindet. Vielleicht du, vielleicht steht sie auch ewig. Also das war etwas, was man hinzunehmen hatte, wie es dann doch anders gekommen ist, das war für mich wirklich der richtig historische Schock und mir ist mal ein positiver Schock, wo ich merkte: Es ist wunderbar, dass ich jetzt mal auf der richtigen Seite der Geschichte stehe, dass ich das erlebe und wo ja dann sofort meine Aktivität anfing in den ersten Jahren, nicht? Also meistens von Berlin aus die Berlin Umgebung Entdecken, Brandenburg, Mecklenburg, bis hoch zur Ostsee, nach Sachsen fahren, nach Thüringen fahren - zum ersten Mal nach Erfurt wieder und das alles, also das Wiederentdecken von Landschaft, die ich auch aus der Kindheit kannte. Und das war dann eine andere Landschaft, als ich hier im Westen kannte. Wenn hier die Dörfer alle Ballungsräume waren - in Brandenburg, Mecklenburg entdeckte ich Dörfer, wie sie vorher alle waren, eine lange Chaussee. Da fängt ein Dorf an, das hört auf. und dann kommt wieder eine Chaussee und sonst ist nichts. Also, ich kam in eine scheinbar stehengebliebene Zeit zurück."
Gegenwärtigkeit des Vergangenen
"Vergangenheit ist nicht etwas, was hinter einer verschlossenen Tür auf einen warten würde, und man müsste die Tür aufmachen und die Vergangenheit würde einen dort erwarten. Nein, Vergangenheit ist ja anwesend. Zum Beispiel in einem Zimmer, in dem wir sitzen, in dem Möbel stehen aus verschiedenen Epochen. Ein altes Sofa aus der Biedermeierzeit. Ein Ledersofa. Vor fünf Jahren gekauft. Also zwei Möbelstücke stellen jetzt schon mal her eine Gleichzeitigkeit. Oder wenn ich an bestimmte Gewohnheiten denke, Gewohnheiten, wie ich sie habe. Ich kann schlecht etwas wegwerfen aus der Erinnerung an Zeiten, in denen noch Mangel herrschte. Ob das jetzt krumme Nägel sind - als Kind musste ich immer krumme Nägel gerade klopfen - oder ob es ein Stück Brot ist, was schon eine Woche daliegt und es ist trocken. Ich bewahre Dinge auf. Im Bewusstsein, dass diese Dinge mal lebenswichtig gewesen sind. Und so hat also Vergangenheit für mich immer noch etwas Gegenwärtiges. Ich trage gern die alten Pullover, ich kann kein Hemd wegwerfen. Na gut, das ist dann wieder so eine Anhänglichkeit, dass man an alten Dingen auch hängt. Aber unabhängig davon weiß ich, dass Vergangenes permanent anwesend ist. Nicht? Das Haus , in dem wir sitzen, ist in den Dreißigerjahren gebaut worden. Und dann denke ich noch daran, wie in den dreißiger Jahren eine Siedlung gemacht wurde. Was waren das für Leute? Es waren ja Menschen, die sich so oder so verhalten haben. Und wie verhalte ich mich heute - so oder so oder so? Gibt es da Analogien? Gibt es da Vergleichbares?"
Das Verschwinden von Erfahrung
"Ich habe immer Angst vor dem Verschwinden von Erfahrung, vor dem Vergessen, dass man sehr schnell vergisst. Ich weiß, ich vergesse selber sehr viel, zumal im zunehmenden Alter, dass mir Namen nicht einfallen, dass ich Vorgänge nicht mehr so genau auf die Reihe bringe und Zeiten auch verwechsle. Das ist nun eine Alterserfahrung, aber trotzdem gehört es ja auch zu unserer aktuellen Art zu leben, sehr augenblicklich zu leben und das Gestern immer sehr schnell hinter uns zu lassen. Und das ist für mich dann problematisch. Zunehmend älter werdend habe ich gelernt, dass ohne ein Gestern ich überhaupt nicht begreife, wer ich heute bin. Warum ich heute so denke und warum ich heute so schreibe oder warum ich dies und das tue, was ich früher nicht getan habe und wovon ich nicht weiß, ob ich das morgen noch tun werde. Mein Denken und Handeln ist immer durch etwas bestimmt, was einmal gewesen ist. Und das nenne ich dann eben das Leben in der Gleichzeitigkeit, dass mir immer bewusst ist, was war und dass der Augenblick jetzt - ich sagte schon - seine Geschichte hat. Es gibt eine Art von Rhetorik, die mich immer abgeschreckt hat, eine Art von Sprachverwendung oder eine Art von Benutzen der Sprache, wo ich größte Distanz gehalten habe oder wenn ich drauf reagiert habe oder ich sehr kritisch mich verhalten habe. Das war die späte Erfahrung einer Sprachwelt, in der ich als Kind groß geworden bin. Das war die Sprache der NS-Zeit, des Dritten Reiches, die ich als Kind so als etwas hingenommen hatte, was so die offizielle Redeweise ist. Das meiste habe ich nicht verstanden. Wenn wir im Jungvolk, im Weltanschauungs-Unterricht saßen und da wurde dann von Weltanschauung, das war schon so ein Wort, gesprochen, das war so ein dunkles Geraune, von dem ich nicht viel verstanden habe. Und es gab dann aber auch alle diese Wörter, die heute auch wieder man hört wie Blitzsieg, Blitzkrieg, Einkesseln, vernichten, aufräumen. Das waren die militanten Wörter. Und als Kind war ich sehr nah dran. Das Kriegsgeschehen verfolgte ich im Radio und in der Wochenschau sehr genau and in der Zeitungslektüre. Und gut, das war dann 45 zu Ende und es tauchte später eine andere Redeweise auf. Das war wie die öffentliche Meinung. Was Politiker sagten, so um das Wirtschaftswunder herum geisterten so Wörter. Und das war dann auch wieder so eine Sprechweise, die mich, ja, entweder verstummen ließ oder die mich befremdete."
Kritisches Sprachbewusstsein
"Mein erstes Buch, Felder, setzt sich sehr damit auseinander und diese Eingriffe in Sprache, Grammatik haben viel damit zu tun mit meinem im Nachhinein entstandenen kritischen Sprachbewusstsein gegenüber der Sprache des Totalitären, des Autoritären, gegenüber der Sprache der Überredung, Werbung. Ich habe eine Zeit lang in der Werbung als Werbeassistent gearbeitet, musste mit der Sprache umgehen und habe gelernt, dass Sprache etwas ist, womit man andere Leute zu etwas bringen soll, was sie eigentlich gar nicht normalerweise tun. Ein Produkt kaufen, was sie vielleicht gar nicht brauchen. Nun ja, aus all dem ist irgendwann dann mal so ein Satz entstanden, dass ich bestimmte Wörter und Sätze nicht sagen kann. So komischerweise in Berlin war das, wo Berlin war damals eine Stadt, die auch durch Sprache sehr geprägt war, so eine Frontstadt-Sprache war das. Und da gab es schon ein Wort Reichstag, da stand ja der Reichstag, die Ruine, wieder hergerichtet für ein Parlament, was einziehen soll. Und da dachte man eigentlich noch an das Wiederentstehen von was weiß ich. Also ich merkte, dass es mir schwerfällt, das Wort Reichstag auszusprechen. Nur merke ich, dass Kritik an der Sprache auf die Dauer auch nicht so produktiv ist, sondern dass es einfach darum geht, eine Sprechweise zu finden, die, na jetzt benutze ich so auch wieder so ein Wort, die authentisch ist oder die mit den Dingen und Erfahrungen übereinstimmt. Dinge, die man wahrnimmt oder Erfahrungen, die man gemacht hat. Die Erinnerungen, das muss irgendwie übereinstimmen, die Sprechweise. Und das ist dann eigentlich mein Weg geworden, dass ich mich also nicht nur sprachkritisch verhalte, sondern einfach die Wörter draußen lasse, die ich nicht gebrauchen kann und mit denen arbeite, die das sagen, was ich eben jetzt sagen möchte?"
Akustische Erinnerungen
"In den Fernsehnachrichten interessiert mich natürlich immer, wie wird das Wetter . Und das les ich in der Zeitung auch und ich weiß ja, wie Wetter auf einen wirkt. Wobei ich keineswegs ein Fan von permanent schönem Wetter bin. Im Gegenteil, ich finde es fürchterlich, wenn keine Wolke am Himmel zu sehen ist, wenn die Sonne gnadenlos scheint. Oder wie Friederike Mayröcker mal sagte: Die Sonne macht alles nur noch schlimmer. Dann sieht man, wie alles draußen, was man tun muss und so. Also ich habe sehr gerne, wenn es regnet. Zumal nach den Erfahrungen der Trockenheit in den letzten Jahren bin ich glücklich über jeden Tropfen Regen. Und Wetter ist... Ich weiß, wie Rolf Haufs mal sagte, wann er am besten schreiben könnte, wurde er gefragt: Ja dann, wenn's regnet. Eine sehr gute Antwort, würde ich auch sagen. Also, Wetter gehört zu den Alltäglichkeiten, die aber doch oft entscheidend sind, wie man sich fühlt im Alltag und wie man damit zurande kommt. Deshalb taucht es bei mir immer wieder so als rhetorische Wiederholung auf. Die Frage nach dem Wetter oder die Beschreibung von Wetter. Wobei einzelne Phänomene des Wetters für mich ganz wichtig sind, der Winter, der Schnee, Gewitter kommen ständig bei mir vor, aber auch nur, weil sich damit wieder eine Kriegserfahrung verbindet. Ich weiß, wie ich zum Ersten Mal die Front hörte, als sich im April 45 der Stadt Erfurt, die Front näherte, in akustischer Gestalt. Geschützfeuer, und das rumpelte immer so, als es noch relativ weit weg war, war es kein Pfeifen und Zischen und ein Einschlag, sondern ein fernes Grollen, so wie sich Gewitter anhört, wenn es kommt, nicht wenn es über mir ist, sondern wenn es sich nähert. Bei jedem sich nähernde Gewitter kommt die Erinnerung für mich an meine erste akustische Erfahrung einer sich nähernden Front. Ich kannte das Geräusch aus der Wochenschau, da war ja dann auch immer Geschützfeuer zu hören. Aber nun plötzlich ganz authentisch, so, zehn Kilometer vor Erfurt ist der Amerikaner und der hat das Geschützfeuer begonnen. Und ich muss aufpassen, dass ich das nicht zu oft verwende. Dieses Gewitter mit der Front. Ich merke das bei meinen gesammelten Gedichten, die ich jetzt in Korrektur lese, dass das verdächtig oft vorkommt. Aber das wiederhole ich nicht, weil mir nichts anderes einfällt, sondern weil das so in einem Wort, nicht, weil das immer wieder eine neue Erfahrung ist, weil bei jedem Gewitter das so kommt. Nicht, wenn man Sätze wiederholt, dann wiederholen sich nur Erfahrungen. Es ist immer wieder ein bisschen anders auch. Also, derselbe Satz, drei Jahre später geschrieben, sagt plötzlich was ganz anderes."
Das Motiv der Wiederholung
"Das Problem der Wiederholung bei mir. Man hat es mir schon vorgeworfen, aber inzwischen ist es bei mir eine bewusst eingesetzte Methode, um davon zu sprechen, was ich immer wieder an Rest entdecke, an liegen gebliebenem Rest. Wo man einerseits annehmen könnte, ich hätte meine Vergangenheit so durchstöbert, dass eigentlich alles aufgeklärt wäre, merke ich, dass immer wieder ein Rest übriggeblieben ist. Und den zu finden, muss man manchmal einen Weg zurückgehen und so entstehen dann Wiederholungen oder ich hab manchmal das Gefühl, es ist nicht richtig oder es ist nicht alles gesagt, es ist etwas ungesagt geblieben. Also wiederhole ich etwas, um im bereits Gesagten das noch nicht Gesagte zu entdecken. Beim Motiv der Wiederholung, aber das weiß jeder, der einen Garten hat, da wiederholt sich sowieso alles, nicht, im Frühjahr, wenn das Gras wächst, muss das Gras geschnitten werden und das muss man mehrmals im Jahr wiederholen und es wiederholt sich die Baumblüte und wenn der Frost dazwischenkommt, wiederholt sich, dass die Baumblüte erfriert. Wenn nicht, wiederholt es sich aber, dass es Kirschen gibt, Äpfel und Birnen, und es wiederholen sich die Jahreszeiten und in diesen Jahreszeiten gibt es Geräusche, die sich wiederholen. Und für mich war das einmal, wie ich nachts wach wurde, und ich denke, was raschelt da? Da war eine Birne durch die Blätter gerauscht, auf den Boden gefallen, und das war so ein Nachtereignis, eine fallende Birne hören, die aufschlägt. Und das war nicht nur einmal, das hat sich in dieser Saison damals mehrmals wiederholt. Das war ein Baum, der sehr schöne, dicke Birnen trug und die machten ordentlichen Krach und das ist eine schöne Erfahrung gewesen, nachts wach zu liegen und die fallenden Bernd zu hören. Bei Äpfeln ist es anders. Die Apfelbäume sind nicht so hoch, die sind weiter verzweigt, da sind nicht zu viele Blätter. Nicht, wenn ein Apfel fällt, der fällt direkt auf den Boden und torkelt da nicht ewig durchs Geäst. Nicht? Ein Apfel fällt sofort auf die Wiese und Pflaumen und Kirschen, die vertrocknen oder werden faul. Die, die fallen nicht, die bleiben ewig hängen und die muss man auch dann schon vorher gepflückt haben. Bei Äpfeln und Birnen kann man ja warten, dass sie unten liegen. Und wenn das Gras schön weich ist, dann gehen sie nicht kaputt."
Landgeräusche
"Bäume gibt es, da reicht die Leiter schon nicht mehr, um da hochzukommen und man muss warten, dass sie fallen. Ein schönes Gartengeräusch: wir hatten einen Nachbarn, der mähte noch seine Wiese mit der Sense. Und zum Sensen gehört eben auch, dass man die Sense schleift mit einem Schleifmesser. Und das war so eins der letzten Landgeräusche, was ich wahrgenommen habe, solange dieser Nachbar noch lebte, dieses Geräusch, das Schärfen des Sensenblattes ist, scht, scht, scht, scht...dann wird's immer ganz still, weil man hörte nur dieses Geräusch. Das Grasmäher-Geräusch, das sind die Rasenmäher, die anspringen, abends, kurz vor sieben oder morgens schon um halb 8. Und da man aber selber so ein Ding auch hat und selbst das Geräusch produziert, kann man sich nicht beschweren. Aber dieses eine vom unmittelbaren Nachbar und der macht einen wunderbaren Schnitt. Ich habe es auch immer wieder versucht, ich hatte auch noch eine Sense da hängen. Drei Sensen sogar, von früher. Aber er sagte: Du machst das alles falsch, du musst dich ganz leicht beugen. Du stichst ja nur in die Erde oder du haust in die Luft. Na gut, ich habe versucht. Ich habe es aber nie so gelernt wie jener Nachbar, der Friedl, der den schönsten Schnitt macht, als wäre man mit der Maschine drüber gegangen. Und dann dazu eben das Geräusch des Schleifsteins. Das war das letzte Landgeräusch. Und dann gibt es noch ein schönes Geräusch, wenn bei Wind ein Schlagladen zufällt. An sich sind die Schlagläden festgehakt, aber das Holz ist schon sehr alt, da ist es morsch und es löst sich eine Schraube. Dann kommt ein Windstoß, da hält der Hebel nicht mehr und der Schlagladen bumst gegen das Haus. Es sind die wenigsten Häuser, die noch richtige Schlagläden, die alten Schlagläden haben und unser Haus hatte eben noch diese Läden und davon nachts wach zu werden oder auch am Tag das zu hören, das war zwar ein Schreck, man guckte auch gleich nach, ist nix passiert, aber es war eben ein typisches Land-Geräusch noch."
Schreiben als Herstellen von Wirklichkeit
"Ja, Schreiben ist das Herstellen von einer Wirklichkeit, die immer wieder sich auf die vorhandene Wirklichkeit bezieht, die die uns umgebende Wirklichkeit widerspiegelt oder reflektiert, in jedem Fall mit ihr korrespondiert. Meine Ausdrucksmöglichkeiten sind sehr beschränkt und so vielseitig mein Schreiben oft erscheint, ich schreibe ja eigentlich immer nur am selben Text, der manchmal die Form eines Gedichtes annimmt oder dann die Form eines Prosastückes oder sich in einem Hörspiel hörbar macht. Aber das ist der Preis dafür, den man bezahlt, wenn man zu sehr auf die eigene Umgebung und die eigene Biografie beschränkt bleibt. Ich habe nicht viel Fantasie. Ich kann keine großen Romangeschichten erfinden, ich kann keine Plots entwickeln und ich bewundere immer bei jedem Tatort, was den Leuten einfällt. Handlungen fallen mir nicht ein, ich habe in der Richtung keine Fantasie. Ich kann immer nur ausgehen von dem, was ich selber erlebt habe, was ich erfahren habe, was ich gehört habe, was ich wahrgenommen habe. Und es ist alles sehr diesseitig, alles sehr konkret und ich bin immer Leser, aber manchmal denke ich, das könnte man ja vermissen. Das fehlt meiner Art, zu schreiben, das Transzendentale oder das Übersinnliche oder das, was das Gespräch sucht mit dem Nichtsichtbaren, Schreiben eben auch als Ausüben einer Religion, Korrespondenz mit etwas, was überwirklich ist oder göttlich oder dergleichen. Mag sein, dass das etwas Fehlendes ist, aber ich empfinde es nicht als etwas Fehlendes. Ich habe einfach keine Antenne. In die Richtung sende ich nicht und aus der Richtung erfahre ich auch nichts."