Die Stimme der Machtlosen
43:50 Minuten
Selbstermächtigung durch politische und kulturelle Aktionen gegen Kolonialismus und Rassismus – das ist das Credo des "The Voice Refugee Forum" in Jena. Dieses Jahr feiert das Netzwerk sein 25-jähriges Bestehen. Wir sind dabei und fragen: Wie kann Kultur als politische Waffe wirken?
Ein kräftiger Mann mit Baskenmütze und Vollbart dirigiert fünf Männer beim Aufbau des Festzeltes auf dem Jenaer Holzmarkt. Sein Name ist Osaren Igbinoba. Er ist einer der Hauptaktivisten von "The Voice" und Mitbegründer der "Refugee Blackbox" aus Jena. "The Voice" ist ein Netzwerk vieler Aktivistenvereine in ganz Deutschland. Sein vorderstes Ziel: Eine unmenschliche Abschiebungspraxis stoppen und der Kampf gegen die soziale Isolation vieler Geflüchteter. Vor über 25 Jahren ist Igbinoba selbst aus Nigeria nach Deutschland geflohen. 1994 war er einer der ersten, die in den Asylheimen Ostdeutschlands eine Protestbewegung aufbaute. Der Protest richtete sich gegen die Isolation in den Asylheimen, gegen die schlechten hygienischen Bedingungen und die brutalen Abschiebungen. Der 25-jährige Kampf für die Rechte Geflüchteter soll an diesem Wochenende in Jena zelebriert werden.
Feiern mit ernster Miene
Es ist weniger ein Festakt als ein Vernetzungstreffen der Mitglieder und eine politische Kundgebung. Die drei Dutzend, überwiegend afrikanischen Flüchtlinge, die sich aus allen Ecken Deutschlands hierher hin aufgemacht haben, trotzen der eisigen Kälte an einem winzigen Heizkörper im halboffenen Zelt. Sie diskutieren die Programmpunkte und Strategien für die Demonstration am Folgetag. Jedes Wort muss übersetzt werden, da nicht alle Anwesenden dieselbe Sprache sprechen und verstehen.
Während die Debatte im Zelt geführt wird, haben einige die "Black Box Installation" auf dem Platz vor dem Zelt aufgebaut. Schwarze Würfel aus Pappe, die teilweise beschrieben oder beklebt sind, teilweise auch noch auf Sprüche warten. Doch nur die wenigsten Passanten bleiben stehen und lesen sich die Slogans auf den schwarzen Kartons durch. Es sind Sprüche der Betroffenen, die sich gegen Gewalt, Isolation und Rassismus richten. "Jeder Flüchtling ist eine Black Box" sagt Igbinoba. Die interaktive Kunstinstallation soll den Passanten die Möglichkeit bieten, auch eigene Gedanken auf eine der Kisten zu schreiben und mit den Aktivisten ins Gespräch zu kommen. Doch die Berührungsängste auf beiden Seiten sind hoch. Es sind vor allem die deutschen Aktivisten, die mit den Fußgängern ins Gespräch kommen. Die Geflüchteten sind zu sehr mit den internen Debatten beschäftigt, schrecken aber auch vor der direkten Konfrontation zurück.
Die Fluchtursachen sind vielfältig, aber oft politischen Ursprungs. Der junge Chris Attobra ist erst vor kurzen aus der Elfenbeinküste nach Deutschland geflüchtet. Als Student hat er sich aktiv für den damaligen Präsidenten Laurent Gbagbo eingesetzt. Als nach einem achtjährigen Bürgerkrieg 2010 schließlich dessen Gegner an die Macht kam, wurde Chris wegen seines politischen Aktivismus tagelang gefangen gehalten. Um einer erneuten Verhaftung zu entgehen, beschloss er 2017 das Land zu verlassen und nach Europa zu fliehen.
Durch Austausch zur Selbstermächtigung
Der zweite Tag beginnt mit einem Forum zum Thema Abschiebung und Selbstschutz von Geflüchteten in den Räumlichkeiten der Friedrich-Schiller-Universität. Etwa fünf Stunden lang wird über mögliche Wege diskutiert, Abschiebungsverfahren sicherer zu gestalten oder sich bereits in den Asylheimen gegen Abschiebung zu organisieren. 2018 gab es 23.617 Abschiebungen aus Deutschland. Eritrea, Somalia und Nigeria waren 2019 unter den zehn Hauptherkunftsländern von Asylbewerbern in Deutschland. Und obwohl das Asylrecht klar definiert, dass politisch Verfolgte mit Schutz und einem Flüchtlingsstatus rechnen dürfen, ist es oft doch sehr kompliziert, die individuellen Fluchtgründe zu belegen.
Auch wenn die Erfahrung der vergangenen 25 Jahre die Geflüchteten und Aktivisten lehrt, dass sie nur wenig Einfluss auf die Politik und Abschiebepraxis in Deutschland haben, so sind solche Vernetzungstreffen doch immens wichtig, erklärt Osarem Igbinoba. Denn der Protest ist eine Form der Selbstermächtigung, die den Menschen das Ohnmachtsgefühl gegenüber ihrer Situation etwas nimmt.
Nach dem Forum geht es zurück auf den Holzmarkt und die große Kundgebung beginnt. Neben Osaren Igbinoba spricht auch Sunny Omwenyeke, der vor mittlerweile 30 Jahren aus Nigeria nach Deutschland kam und ebenfalls zu den Hauptakteuren von "The Voice" zählt. Omwenyeke wurde bereits die Residenzpflicht von Asylsuchenden zum Verhängnis. Sie legt fest, dass Menschen im Asylverfahren sich nur in einem bestimmten Radius frei bewegen dürfen. Als Omwenyeke ohne Genehmigung zu einem Flüchtlingskongress nach Thüringen reiste, wurde er auf dem Rückweg kontrolliert. Statt den 5000 Euro Strafe, die er hätte bezahlen sollen, entschied er sich für das Gefängnis. Er protestiert bis heute gegen das restriktive Gesetz, das für ihn auch Ausdruck kolonialer Machtstrukturen ist.
Inzwischen haben die Aktivisten die schwarzen Pappkartons in ein großes Schlauchboot gelegt, das auf die gefährlichen Fluchtrouten aufmerksam machen soll. Parolen rufend tragen sie das Boot durch die Innenstadt zur Ausländerbehörde, dem Ort an dem sich für sie das Unrecht manifestiert. Doch es ist Wochenende und kaum jemand nimmt Notiz von ihrem wütenden Aufstand. Trotzdem lassen sich die Aktivisten nicht entmutigen und sitzen noch lange zusammen auf dem Jenaer Holzmarkt. Sie trommeln und singen Lieder von Freiheit und Revolution.
Kunst kann Machtstrukturen offen legen
Die Kuratorin am Martin-Gropius-Bau in Berlin Natasha Ginwala ist der Ansicht, dass Kunst helfen kann, gesellschaftliche Machtstrukturen offen zu legen. Sie sagt: "Durch Kunst schaffen wir einen Raum, in dem wir miteinander diskutieren können. Vorurteile, die von autoritären Regimen aber auch Mainstream-Medien geschaffen wurden, werden dann aufgebrochen." Sie sieht in der Kunst das Potential, Menschen nicht nur zusammen zu bringen, sondern auch weiterzubilden. Unter Bezug auf den amerikanischen Dichter Fred Moten betont sie: "Er meint damit nicht, dass wir akademische Bücher über die britische Herrschaft schreiben sollen, sondern er meint, dass wir Gedichte lesen sollen, uns Ausstellungen anschauen sollen oder auf die Straße gehen sollen, um zu protestieren. Das bedeutet Lernen und das interessiert mich."