Die libanesisch-deutsche Galeristin Andrée Sfeir-Semler
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Andrée Sfeir-Semler, Expertin für zeitgenössische arabische Kunst, lädt uns in ihre Galerie ein und gewährt Einblicke in die ansonsten eher verschlossene Kunstwelt. Bei einem Besuch in der völlig zerstörten Dependance in Beirut erfahren wir, wie die Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg funktioniert.
Andrée Sfeir-Semler steht an einen Fenstersims gelehnt und schaut kritisch-prüfend auf ihre zwei Mitarbeiter, die Abstände an der Wand ausmessen. Vor ihnen stehen zwei Meter breite Fotos von Handgranaten, Sprengstoff und Munition der libanesischen Armee. Die Holzkanten der Rahmen sind mit blauem Schaumstoff vor Transportschäden geschützt.
Es ist der 3. November, 10 Uhr morgens. Was da gerade aufgebaut wird ist Walid Raads Ausstellung "Sweet Talks" in der Hamburger Galerie Sfeir-Semler. Raad ist während des Bürgerkriegs im Libanon aufgewachsen. Seit 1999 dokumentiert er die gewaltvolle Geschichte seines Landes. Seine Kunst befasst sich mit dem Libanon als Heimat während des Krieges, es sind metafiktionale Erzählungen und zerrissene Erinnerungen. Neben den Fotos werden auch Installationen in der Einzel-Ausstellung zu sehen sein.
In dem loftigen, langgezogenen Raum mit weißen Wänden und Neonröhren an der Decke stehen Kartons mit noch eingepackten Kunstwerken. Andrée Sfeir-Semler hält eine ausgedruckte Computersimulation des Raumes in den Händen, darauf sind die Werke in ihrer zukünftigen Position zu sehen. Der in New-York lebende Künstler hat sie geschickt, da er nicht selbst anwesend sein kann.
"Das ist die erste Ausstellung, die ich von ihm aufbaue, ohne dass er anwesend ist", erzählt die Galeristin. "Aber inzwischen kenne ich die Arbeit sehr gut – und er hat die Simulationen geschickt. Wir haben es aber etwas verändert."
Koordinieren, Managen, Netzwerken
Die Arbeit der Galeristin liegt im Delegieren und in den Details: Das Stellen und Hängen der Werke, die Korrektur der Texte für den Newsletter, Rücksprache mit den Künstlern halten. Verträge müssen unterschrieben, Rechnungen geprüft, Beschreibungen von Kunstwerken verschickt und Lieferungen an Kunsthäuser organisiert werden. Wenn keine Pandemie herrscht, fährt sie auch auf Kunstmessen und Veranstaltungen, immer mit offenen Augen für neue Talente.
"Der oberste Kanon ist Qualität. Jetzt werden Sie mir sagen: Und wie erkennen Sie Qualität? Qualität erkennt man nur im Vergleich. Es gibt keine absolute Qualität. Und es gibt kein Kunstwerk, das in den Golfstaaten oder in Beirut oder in Hamburg auf die gleiche Weise gelesen werden kann. Diese sozio- geographische Komponente spielt eine Rolle. Und da ich meine Galerie bereits 1985 eröffnet habe – teilweise mit sehr, sehr, sehr berühmten Künstlern – habe ich ein Training bekommen, das es mir erlaubt hat, Qualität besser zu beurteilen."
Die Galeristin betreut 34 Künstler und Künstlerinnen. Die meisten von ihnen stammen aus dem Libanon oder anderen arabischen Ländern. Die Kunst, die sie ausstellt, ist keine Verschönerung fürs Wohnzimmer, betont sie. Es sind stattdessen Werke mit politischer Bedeutung. Raads Werke beispielsweise befassen sich mit Krieg, Waffengewalt und politischen Unruhen. "Sie sind nicht deskriptiv libanesisch. Die Schaubühne ist Beirut, aber die Relevanz kann auf vielen Ländern übertragen werden und kann auch unter anderen Prämissen verstanden werden."
Vertreterin der Kunstschaffenden
Die Galeristin bekommt die Kunstwerke auf Kommission: "Wir kaufen nicht an, wir arbeiten praktisch im Auftrag des Künstlers. Und wenn wir die Kunstwerke verkaufen, bekommt der Künstler seinen Anteil und wir unseren Anteil. Wenn es sich aber um Kunstwerke handelt, die Produktion bedürfen – wie Fotografie oder Werke, die gerahmt werden müssen – dann finanzieren wir in der Regel diese Kosten, lagern auch diese Werke und erst wenn die Arbeit verkauft wird, ziehen wir unsere Kosten ab und teilen dann mit dem Künstler."
Bei den Ausstellungen in ihrer libanesischen Galerie ist sie auch immer mit dabei. Ganz selbstverständlich reist sie knapp vier Mal im Jahr zwischen ihrer Dependance in Hamburg und dem Ausstellungsort im Libanon hin und her. Durch Corona ist sie gerade aber gezwungen, die Ereignisse in Beirut von Deutschland aus zu begleiten.
Wiederaufbau in der Beiruter Galerie
2005 hat Sfeir-Semler die "Homebase" für ihre Künstlerinnen und Künstler, den ersten "White Cube", eine schlichte moderne Galerie, in den arabischen Ländern eröffnet. Doch die Explosion am Hafen von Beirut am 4. August 2020 hat die Galerie, die nur wenige hundert Meter vom Hafen entfernt in einer ehemaligen Metallfabrik gelegen ist, komplett zerstört.
Vor der Explosion wurden im hinteren Teil der Galerie Filmausschnitte auf eine Leinwand projiziert. Einige der Polsterstühle fürs Publikum sind aufgeschlitzt, die Decke ist samt Projektor heruntergekracht. Fensterscheiben sind herausgesprungen und sogar die Aluminiumrahmen der Fenster sind herausgebrochen. Und doch hatten die Mitarbeitenden der Galerie Glück im Unglück: Die einzige anwesende Mitarbeiterin war gerade im Bad, im inneren der Galerie, dessen dicke Wände und Decke nicht eingestürzt sind. Die Werke der bekannten Künstlerin und Dichterin Etel Adnan waren schon abgebaut und bereits nach Deutschland verschickt und die neue Ausstellung wegen Corona noch nicht aufgebaut.
Bei einem Besuch Ende September stehen Holzkisten mit den Kunstwerken für die nächste Ausstellung von Marwan Rechmaoui zwischen Säcken mit Glasscherben und einem Haufen Aluminiumrahmen. Der Künstler möchte dieses Material nutzen, um daraus ein neues Kunstwerk zu gestalten, das Teil seiner nächsten Ausstellung in der Galerie werden soll.
Vor fünfzehn Jahren haben sich Sfeir-Semler und Rechmaoui kennengelernt. Die Galeristin besuchte Marwan Rechmaoui und ihr gefiel die Kunst, die er damals ohne Atelier zuhause gestaltete. Der Künstler war in der alternativen Untergrundszene Beiruts aktiv. Mittlerweile ist er nicht nur ein international gefragter Künstler, sondern auch eng mit Andrée Sfeir-Semler befreundet. "Sie ist eine sehr mutige Frau, sie ist selbstbewusst und sagt dir sofort, was sie denkt. Ich bin froh, dass wir uns getroffen haben", sagt er. "Sie ist sehr ehrgeizig, sehr begeistert von neuen Ideen und Projekten."
Sfeir-Semler ist im Libanon geboren und aufgewachsen. 1975 begann im Libanon der Bürgerkrieg, Sfeir-Semler war kurz vorher mit einem Stipendium nach Europa gekommen. Zehn Jahre später eröffnete sie ihre erste Galerie in Kiel, wohin sie ihrem deutschen Mann gefolgt war. "Am Anfang hat mein Bruder mir Geld geliehen, als ein Startkapital. Das Geld habe ich ihm aber drei Jahre später zurückgegeben", erzählt sie nicht ohne Stolz. "Das ist meine libanesische Ader: Ich kann mit Handel umgehen, ich kann verkaufen und das hat dazu beigetragen und mir geholfen, relativ schnell wirtschaftlich effizient arbeiten zu können."
Das Geheimnis des Erfolgs: Kunst mit Relevanz
In ihrer Kieler Galerie vertrat Sfeir-Semler bereits etablierte Künstler wie Markus Lüpertz oder Georg Baselitz. Erst Ende der 1990er kam sie zur arabischen Kunst, nachdem sie den Künstler Walid Raad kennen gelernt hatte: "Seine Kunstwerke haben mir die Augen geöffnet für das kulturelle Geschehen im Postkriegslibanon. Und dann habe ich weitere Künstler kennengelernt, die sehr relevante Werke machten, die mich sehr interessiert haben und mehr und mehr hat sich das Programm der Galerie verlagert – wir haben weniger Künstler aus dem Westen vertreten und immer mehr Künstler aus dem arabischen Raum."
Sfeir-Semler hat vielen arabischen Künstlern zu internationaler Bekanntheit verholfen: Die von ihr vertretenen Kunstwerke wurden auf der Documenta in Kassel, auf der Art Basel, bei Biennalen in Venedig, Palermo oder im südkoreanischen Gwangju ausgestellt. Sie waren im Guggenheim- Museum, im Centre Pompidou, in San Francisco, Seoul und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu sehen.
Was ist das Geheimnis ihres Erfolgs? "Für mich ist es immer sehr wichtig, dass die Kunst, die ich vertrete, auch Menschenrechte im Auge behält und dass man letztendlich auch Politik thematisiert, ohne in die Tagespolitik zu verfallen. Es sind immer Kunstwerke, die eine Relevanz haben – für Geschichte, für Kultur, für sozio-geografische Strukturen. Und ich glaube, das ist der Grund des Erfolgs. Deswegen interessieren sich auch Documentas, Biennalen und Museen für unser Programm."
Erstsendedatum 22.01.2021