Mikrokosmos

Abraxas

44:10 Minuten
In den 80er-Jahren entwarf der spanische Architekt Ricardo Bofill im Pariser Vorort Noisy-le-Grand eine postmoderne Wohnutopie: Les Espaces d’ Abraxas
Eine postmoderne Wohnutopie: Les Espaces d’ Abraxas © Deutschlandradio / Anne Kockelkorn
Von Kathrin Hondl |
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In den 80er-Jahren entwarf der spanische Architekt Ricardo Bofill im Pariser Vorort Noisy-le-Grand eine postmoderne Wohnutopie: Les Espaces d'Abraxas. Stilistisch an die Antike angelehnt, entstanden drei monumentale Wohnblöcke in Form eines Palastes, eines Torbogens und eines Theaters.
Aus der Ferne sieht die monumentale Anlage aus wie eine massive und geheimnisvolle Festung. Erbaut auf dem Mont d'Est, dem 'Berg des Ostens', überragen die gigantischen Betonbauten das endlos scheinende Häusermeer der östlichen Banlieue von Paris. Doch wer die 'Räume des Abraxas' aus der Nähe sehen will und mit dem RER A, der Regionalbahn, in Noisy-Le-Grand ankommt, veirrt sich leicht. Der Weg führt entweder durch eine weitläufige Shopping-Mall oder durch einen langen Tunnel zunächst in ein mehrstöckiges Parkhaus. Aber wenn man endlich die Reihen parkender Autos durchquert hat, sind die 'Räume des Abraxas' nicht mehr zu übersehen.
Palacio mit mehrheitlich Sozialwohnungen
Gleichermaßen monströs und verspielt wirkt die Außenfassade des Palacio, des größten der drei Gebäude: 18 Stockwerke hat dieser 100 Meter breite Palast. Sprossenfenster erinnern an Barockarchitektur. Gigantische antikisierende Säulen vermitteln monumentale Wucht. "Betonfertigteile greifen Elemente der klassischen Architektur auf", erklärt die Architekturhistorikerin Anne Kockelkorn, verfremdet durch unterbrochene Säulen. Für deren Vorsprünge in der Fassade hatte der Architekt Ricardo Bofill ursprünglich eine Begrünung vorgesehen. Doch Geld und Wille zur Umsetzung fehlten. Und so haben sich im Laufe der Zeit Tauben eingenistet, wo Zypressen wachsen sollten. "Zwischen Tauben und Zypressen schwankt auch das Ambiente", meint Anne Kockelkorn, "ob Abraxas ein Ort des sozialen Abstiegs oder ein Palast des gehobenen Wohnens ist."
Mikrokosmos In den 80er-Jahren entwarf der spanische Architekt Ricardo Bofill im Pariser Vorort Noisy-le-Grand eine postmoderne Wohnutopie: Les Espaces d’ Abraxas. Stilistisch an die Antike angelehnt, entstanden drei monumentale Wohnblöcke in Form eines Palastes, eines Torbogens und eines Theaters.
© Laurent Kronental
Etwas mehr als 600 Wohnungen bieten die drei monumentalen Gebäude, Palacio, Triumphbogen und Theater. 440 sind es im gigantischen Palacio, davon zwei Drittel Sozialwohnungen. In einer von ihnen wohnt die 62-jährige Marylin Gilbert. 1983 ist sie aus ihrer Heimat im Überseedepartement Martinique in die "Räume des Abraxas" gezogen. "In den ersten Jahren war ich sehr stolz hier zu wohnen", erzählt Marylin. "Das war mein Schloss, so romantisch." Heute aber träumt sie davon, den Palacio zu verlassen. Mehrmals schon war sie mehrere Stunden im Aufzug eingesperrt. Seither nimmt sie die Treppe, um in ihre Wohnung im elften Stock zu kommen. "Es ist schmutzig hier", sagt sie, "die Leute werfen überall ihren Müll hin. Es gibt Ratten."
Auch die Gymnasiallehrerin Maïté Chambaud war 1983 mit Begeisterung in die "Räume des Abraxas" gezogen. "Es war Liebe auf den ersten Blick", erzählt sie. Mit ihrem Mann kaufte sie eine Wohnung in der 14. Etage mit einer grandiosen Aussicht auf Paris, am Horizont der Eiffelturm. Doch als die Anlage in den 90er-Jahren immer mehr verwahrloste, zogen die Chambauds wieder aus. Seither vermieten sie die Wohnung.
Kulisse für den Film "Die Tribute von Panem"
Viele machen die labyrinthische Architektur verantwortlich für den Niedergang der postmodernen Wohnutopie. Die verwinkelten Gänge, Treppen und Brücken des Palastes bieten ideale Fluchtwege für die Drogendealer, die in den Innenhöfen ihre Geschäfte machen. Die Polizei, heißt es, traue sich hier nicht hin. Abraxas, eine No-Go-Zone?
Mikrokosmos In den 80er-Jahren entwarf der spanische Architekt Ricardo Bofill im Pariser Vorort Noisy-le-Grand eine postmoderne Wohnutopie: Les Espaces d’ Abraxas. Stilistisch an die Antike angelehnt, entstanden drei monumentale Wohnblöcke in Form eines Palastes, eines Torbogens und eines Theaters.
© Laurent Kronental
"Das sind nur Gerüchte, die der frühere Bürgermeister gestreut hat, weil er die Architektur nicht mochte", sagt Teddy Borres. Er ist Hausmeister im Théâtre, dem eleganten halbrunden Gebäude gegenüber dem Palacio. "Es ändert sich gerade viel", sagt er. Seit 2014 in den "Räumen des Abraxas" ein Kinofilm der "Hunger-Games"-Trilogie gedreht wurde, sei das Interesse an der spektakulären Architektur von Ricardo Bofill neu erwacht. "Der Hype um den Kinofilm hat den Blick auf unser Viertel verändert", meint Teddy Borres.
Steingewordenes Schulterpolster
Die spektakuläre Kulisse der drei monumentalen Bauten rund um das Amphitheater in der Mitte hat Filmemacher und Fotografen schon immer magisch angezogen. Nicht nur der Kino-Klassiker "Brazil", auch unzählige Musikvideos wurden in den "Räumen des Abraxas" gedreht. Wer mit Architekturblick den Beginn von Stéphanies "Ouragan/Irresistable"-Video anschaut, könnte auf den Vergleich eines steingewordenen Schulterpolsters kommen. Aber natürlich ist Abraxas viel mehr.
"Souvenir d'un Futur", "Erinnerung an eine Zukunft" nannte der junge französische Fotograf Laurent Kronental seine beeindruckende Bilderserie dieses Massenwohnungsbaus. "Es ist verrückt", sagt Kronental. "Es gibt hier so viele verschiedene Ansichten. Man hat den Eindruck, diesen Ort immer wieder neu zu entdecken. Er hat so eine Kraft, mich überwältigt das."