Feministische Freiluftgalerie
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Die Proteste auf den Straßen von Chiles Hauptstadt sind feministisch. Auch früher unpolitische Künstlerinnen sind zu Aktivistinnen geworden, die mit Street Art gegen soziale Ungleichheit und Gewalt gegen Frauen kämpfen. Mit dem Kollektiv Baila Capucha und anderen Künstlerinnen haben wir die Szene erkundet.
Das Kulturzentrum Gabriela Mistral, kurz GAM, in Chiles Hauptstadt Santiago hat sich seit dem Beginn der Proteste von einem schmucklosen Gebäude in eine Art Freiluftgalerie verwandelt. Hier kleben, malen und sprühen alle möglichen Leute Poster, Bilder und Sprüche an die Wände. „Die Revolution wird feministisch sein“, liest man hier zum Beispiel oder „Pacos culiados“ – „Scheiß Bullen“, eine Parole, die die Demonstranten immer wieder rufen.
Auch Loreto Góngora und Paloma Rodriguez nutzen die Wände des GAM, um ihre Kunst zu zeigen. Die Proteste haben die beiden studierten Künstlerinnen zur Straßenkunst gebracht.
„Die Protestkunst ist anders als die Kunst der Galerien. Die Menschen fühlen sich weit entfernt von der bildenden Kunst in Chile, sie verstehen sie nicht, weil sie sehr elitär ist, ein geschlossener Kreis. Was jetzt passiert, ist das komplette Gegenteil. Es gibt einen Dialog zwischen den Menschen und dem Kunstwerk. Seit dem Beginn der Proteste fühle ich mich empowert und habe Lust, auf die Straße zu gehen, was ich vorher noch nie gemacht habe. Ich habe mich neu in mein Land und mein Volk verliebt“, sagt Loreto Góngora.
„Für uns Frauen ist es Alltag zu kämpfen“
Eines ihrer Bilder zeigt fünf lebensgroße Frauen vor einem Sternenhimmel, darunter steht „Las mujeres siempre estamos en primera línea“ – „Wir Frauen sind immer in der ersten Reihe“. Damit spielt die Künstlerin auf die erste Reihe der Demonstrationen an. In ihren Augen verteidigen die Menschen in der ersten Reihe, die am meisten von der Polizeigewalt abbekommen, all diejenigen, die friedlich protestieren wollen.
„Ich wollte aus einer feministischen Perspektive darstellen, dass wir Frauen uns immer auf einem Kampffeld befinden. Wir sind benachteiligt, die Welt ist komplizierter und feindseliger für uns, nur, weil wir als Frauen geboren wurden. Für uns ist es Alltag, zu kämpfen“, sagt Góngora.
Paloma Rodriguez klebt derweil ein Bild schon zum zweiten Mal an die Wand des Kulturzentrums. Sein Vorgänger wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion übermalt – wahrscheinlich auf Geheiß der Stadtverwaltung. Rodriguez hat das Bild in einzelnen Stücken ausgedruckt und klebt es nun wie ein Puzzle mit Wasser und Kleister an die Wand.
„Das Bild ist Teil einer Serie namens „Evas“. Nachdem es zensiert wurde, habe ich es aktualisiert. Eva trägt jetzt eine Augenklappe, weil so viele Leute durch Wasserwerfer und Gummigeschosse ihr Augenlicht verloren haben. Und die Polizei ist dafür verantwortlich.“
Die chilenische Polizei geht mit Gewalt und Repression gegen die Demonstrationen vor. Der Treffpunkt der Protestierenden in Santiago ist der Plaza Italia, der inzwischen auf Plaza Dignidad, Platz der Würde, umgetauft wurde. Hier gibt es Musik, Theatergruppen, Tanz, Bands – wäre der Anlass nicht so ernst, würde die Demonstration an einen bunten Straßenkarneval erinnern.
„Der Tanz ist feministisch“
Hier tanzt auch regelmäßig das Kollektiv Baila Capucha Baila – übersetzt heißt das „Tanz, Maskierte, tanz“. Capucha ist eine Kapuze, Maske oder Sturmhaube. Bei den Protesten vermummen sich viele Leute, einerseits, um sich vor dem Tränengas der Polizei zu schützen, aber auch, um unerkannt zu bleiben. Die Frauen vom Tanzkollektiv tragen alle leuchtend rote Sturmhauben und schwarze Kleidung, das ist ihr Markenzeichen.
Eine der Gründerinnen des Kollektivs ist die 27-jährige Munay. Sie betont die emanzipatorische Bedeutung der Straßenproteste:
„Uns ist das sehr wichtig, weil die Straße uns nie gehört hat. Wir mussten immer Angst haben, wir konnten nicht leicht bekleidet rausgehen, weil sie uns von klein auf beibringen, dass wir verwundbar sind, wenn wir Haut zeigen. Diese patriarchalen Strukturen wollen wir brechen. Jede soll sich in ihrem Körper wohlfühlen. Wir wollen den weiblichen Körper befreien, umstrukturieren. Wir könnten sogar nackt tanzen, weil wir eine große Gruppe sind und uns gegenseitig beschützen“, sagt Munay.
Das Kollektiv ist mehr als nur eine Tanzgruppe, für viele Mädchen und Frauen ist es zur Familie geworden. Viele, die hier zusammen kommen, haben sexualisierte Gewalt erlebt und finden hier zum ersten Mal den Mut, darüber zu sprechen.
Kunst als Werkzeug des politischen Widerstands
Fernanda Fábrega ist am Goethe-Institut in Santiago de Chile für das Kulturprogramm zuständig. Außerdem ist sie selbst Künstlerin. Mit dem Kollektiv „Kaum“ gestaltet sie künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum und mit dem Kollektiv „Chusca“ setzt sie sich künstlerisch mit den Todesfällen und Augenverletzungen auseinander, die sich seit dem Beginn der Proteste im Oktober häufen.
„In Chile hat politische Kunst einen besonders hohen Wert. Zum einen wegen ihrer Rolle im Widerstand gegen die Diktatur, und zum anderen wegen ihrer Funktion als öffentliche Anklage von Menschenrechtsverletzungen. Kunst als Ausdruck des Protests war in Chile immer ein politischer Akt. Sie ist ein wichtiges Werkzeug des politischen und sozialen Widerstands“, sagt sie.
Fábrega glaubt, dass viele Künstlerinnen sich durch die soziale Bewegung bestärkt fühlen: „In der sozialen Bewegung sind künstlerische Aktionen eine Einladung, die über Künstler und Kunst hinausgeht. Empowerment heißt, dass man weiß, dass man als Bürger den öffentlichen Raum besetzen kann. Dass die eigene Meinung zählt und es einen Platz dafür in der öffentlichen Debatte gibt. Für Frauen ist der öffentliche Raum ein Symbol der Unterdrückung, er ist ein Raum des feministischen Kampfes.“