Hörspiel des Monats Mai 2024

Raumzeit

Vollbildaufnahme eines Sternenfelds
Wie wäre es, die Wirren des Alltags einmal hinter sich zu lassen und stattdessen Quantenphysik gemeinsam zu denken? Spielerisch und sinnlich. © Richard Watson / EyeEm
Von Luise Voigt |
• Wort-Klang-Komposition • Keine Angst vor Quantenphysik! Hier läuft kein wissenschaftlicher Vortrag, sondern ein sinnlich erfahrbares Spiel mit Text und Musik, das klangvoll dazu einlädt, über das Verhältnis von Raum und Zeit nachzudenken.
Das Hörspiel wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zum Hörspiel des Monats Mai 2024 gekürt.

Aus der Begründung der Jury der Akademie der Darstellenden Künste:

Schon mit dem Titel und dem gedanklichen Ansatz schreibt sich Luise Voigt in die Tradition von Kants kritischer Philosophie ein, von der wir gelernt haben, dass u.a. Raum und Zeit lediglich Konzepte unseres Erkenntnisvermögens sind, mit deren Hilfe wir Welterfahrungen überhaupt erst machen können, und dass die Welt, von der wir wissen, lediglich die Version ist, die uns diese Konzepte und unsere Sinnesorgane vermitteln; wir leben in der Welt, wie sie uns vorkommt, erreichen aber nie die Welt, wie sie an sich ist.
Das Hörspiel «Raumzeit» nimmt uns mit auf einen Spaziergang durch die Vorstellungen älterer und zeitgenössischer Philosoph:innen. Voigt öffnet damit einen breiten Fächer von Weltwahrnehmungsmöglichkeiten. So bekommen wir u.a. durch Karl Ernst von Baer vorgerechnet, wie unsere Erlebniswelt anmuten würde, wenn wir Wesen mit einer vierzigminütigen Lebensspanne wären, und, zum Beispiel gegen Abend geboren, auf eine düstere Prognose einer viele Generationen dauernden Finsternis schließen müssten, im Gegenzug bei einer extremen Langlebigkeit etwa den Blumenwachstum als aufschießendes Raketenspektakel erleben würden.
Wir bekommen Giorgio Agambens Hinweis auf den Biologen Jakob von Uexküll vermittelt, der uns die Welt aus der Erlebnisqualität einer Zecke beschreibt. Sie ist reduziert auf drei Faktoren: den Unterschied von Hell und Dunkel, den Duft von Milchsäure, die der Haut von Warmblütern entsteigt und den einzigen Gegenstand von Begehrlichkeit, eine beliebige Flüssigkeit von 37 Grad Wärme.
Und die Philosophin Karen Barad erinnert daran, dass die Elektronen in ihren Umkreisungen um ihre Atomkerne nie lokalisierbar sind und nicht als Dinge, sondern als Bewegung gedacht werden müssen. Sie entfaltet uns daraus die Welt nicht als Status, sondern als dauernden Prozess: Sein ist prozesshaftes Tun.
Die Musik (Nicolas Haumann) hat nicht einfach Soundtrackfunktion. Eigenkompositionen, Einspielungen und exzellenten Coverversionen von Stücken aus der Musikgeschichte tragen dazu bei, dass nachgerade eine epistemologische Liturgie entsteht; so etwa Purcell («Oh Solitude»), Bach («Oh Ewigkeit, du Donnerwort»), die Rockband Pixies («Where is my Mind»), Simon and Garfunkel («Sound of Silence»), Sun Lux («Easy, easy. Pull your Heart to make the being alone») und Haumann («Leonore fuhr ums Morgenrot, und als sie rum war, war sie tot»). Auf je eigene Weise helfen sie mit, uns auf eine offene Denkweise einzustimmen und über das Gehörte nachzudenken.
«With your feet on the air and your head on the ground», so sollte dieses Hörspiel angehört werden: Mit den Füssen in der Luft und dem Kopf nach unten gebettet, um sich hörend von der Vorstellung unseres durch Schwerkraft geprägten Raumgefühls verabschieden zu können. Hat Kant bekannt: «Ich musste das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen», so sind wir von Luise Voigt und ihrem hervorragenden Ensemble dazu eingeladen, eine Stunde lang allen Glauben und alle Meinungen aufzuheben, um für das Bewusstsein der Formenvielfalt und der Grenzen möglichen Wissens Platz zu bekommen. Wir haben die Einladung angenommen und zeichnen «Raumzeit» als Hörspiel des Monats Mai 2024 aus.
Die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main zeichnet jeden Monat ein Hörspiel aus den Produktionen der ARD-Anstalten aus. Die Entscheidung über das HÖRSPIEL DES MONATS trifft eine Jury, die jeweils für ein Jahr unter der Schirmherrschaft einer ARD-Anstalt arbeitet. Am Ende des Jahres wählt die Jury aus den 12 Hörspielen des Monats das HÖRSPIEL DES JAHRES.

Hörspiel des Monats Mai 2024

Raumzeit
Gesammelte Entwürfe zum Wesen der Wirklichkeit
Von Luise Voigt
Regie: die Autorin
Komposition: Nicolas Haumann Mit: Catherine Stoyan, Manuel Harder, Annika Schilling, Fabian Kulp
Produktion: HR 2024

Luise Voigt, geboren 1985, Regisseurin, Autorin, Medienkünstlerin. Sie inszeniert in der freien Theaterszene, an staatlichen Bühnen und realisiert Hörspiele. 2005 Weimarer Hörspielpreis für ihr Erstlingswerk „Weltall-Erde-Mensch“. 2009 Stipendiatin an der Akademie der Künste Berlin in der Sektion Film- und Medienkunst. Hörspiele u.a. „Holzschnitzer – wo ist denn die Sonne direkt über uns?“ (DKultur 2016), „Heterotopia“ (Deutschlandfunk Kultur 2018). 2020 Deutscher Hörbuchpreis in der Kategorie Bestes Hörspiel für „Die Jahre“ von Annie Ernaux (HR/Audioverlag 2018). 2020 „Fünf Flure, eine Stunde“ (HR/SWR/Deutschlandfunk Kultur 2020). Luise Voigt lebt in Berlin.

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