Reihe: Dramaturgen der ARD

Stefan Kanis: „Ein Text gehört immer ins Radio“

09:59 Minuten
Auf dem Bild ist der Hörspieldramaturg und Regisseur Stefan Kanis zu sehen. Er blickt lächelnd in die Kamera.
Der Hörspieldramaturg und Regisseur Stefan Kanis © Olaf Parusel / MDR
Von Raphael Smarzoch |
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Stefan Kanis, Hörspieldramaturg beim MDR, arbeitet nicht nur als Dramaturg, sondern auch als Regisseur. Eine ungewöhnliche Kombination, die ihm eine eigene Perspektive auf das Hörspiel ermöglicht und zu experimentellen Erzählformen und Inszenierungen führt.
Stefan Kanis Fragebogen
Stefan Kanis: Mein Name ist Stefan Kanis. Ich bin seit 1998 beim Hörfunk, Hörspiel tätig.
Frage: Können Sie sich noch an ihr erstes Hörspiel erinnern, das Sie gehört haben?
Kanis: Kann ich mich nicht aktiv, war aber mit ganz großer Wahrscheinlichkeit eine Litera-Produktion, ein Märchen wahrscheinlich, wir hatten verschiedene Platten. Litera war so ein Label, was sich in der DDR um Literatur, wie der Name schon sagt, gekümmert hat. ‚Drosselbart‘, ‚Schatzinsel‘. Ich glaube, mich auch an die Stimme von Kurt Böwe zu erinnern, aber da verschwimmt vielleicht schon Nachgehörtes mit der Erinnerung.
Frage: Was fasziniert Sie am Hörspiel?
Kanis: Ich glaube, es gibt kein anderes Genre unter den Zeit-Künsten, also Theater, Film, dass mit einer tieferen Einladung zu Assoziationen auf seine Hörer und Hörerinnen losgeht. Das Hörspiel hat die Möglichkeit diese Bilder, die ich vielleicht von der Welt habe, untereinander ins Spielen zu bringen und viel besser verschneiden zu können, als es beispielsweise das Kino kann.
Frage: Was macht ein zeitgenössisches Hörspiel aus?
Kanis: Dass ich mir überlegen muss, wie ich eine Erzählung von Welt so öffne, dass ich im Moment des Erzählens Alternativen aufscheinen lasse, dass ich mehr Welt, mehr Möglichkeiten, mehr Assoziations-Raum in die Figur bekomme.
Frage: Was muss ein gelungenes Hörspiel bei seinen Zuhörern auslösen?
Kanis: Ich als exemplarischer Zuhörer würde sagen, ich möchte die Schauspielerin, den Schauspieler hören. Ich möchte hören, wie sich die Kollegen im Moment des Kunstmachens selber verausgaben.
Frage: Was muss eine gute Hörspiel-Dramaturg können?
Kanis: Die Dramaturgie ist ja im Kern schon eine Schaltstelle, die Texte für ihre Arbeit, ihre Umsetzung, vorbereitet. Sie muss eine künstlerische Entschlossenheit mitbringen, dass man in der Vielfalt der Möglichkeiten eine eigene Handschrift überhaupt entwickeln kann.
Frage: Welches Potenzial steckt im Hörspiel, das noch nicht ausgeschöpft wurde?
Kanis: Ich denke, dass die Frage, welches Potenzial im Hörspiel steckt, immer eine unwahrscheinlich zeitgebundene Frage ist. Das heißt, was in 20 Jahren uns beispielsweise die Entwicklung der sozialen Medien an Konflikten bescheren wird, können wir heute noch gar nicht absehen. Und aus diesen Wirklichkeitsproblemen, aus dieser Wirklichkeitssucht, möchte ich sagen, muss auch das Hörspiel, wie jede andere Kunst, sein Material beziehen. Insofern ist diese Frage eine Frage, die der Zukunft zu stellen ist.
Stefan Kanis, Hörspiel-Dramaturg und -Regisseur
Stefan Kanis ist kein gewöhnlicher Hörspieldramaturg. Er ist auch als Regisseur tätig. Eine Kombination, die ihm eine intensive textliche Auseinandersetzung mit dem Hörspielspielmanuskript ermöglicht und gleichzeitig auch seine akustische Inszenierung mitdenken lässt.
Kanis: Es ist schon so, dass die Rede beispielsweise über die Figuren oder die Rede über inhaltliche Möglichkeiten eines Textes, nicht unbedingt die Rede ist über das Potenzial ihrer sinnlichen Erscheinung beim Machen.
Die Vorteile eines dramaturgischen Inszenierens liegen auch in der Möglichkeit, die erzählerische Struktur eines Stückes erst im Schnitt zu entwickeln, in der Produktion selbst. Das Hörspiel "Jenseits der Kastanien" von Marina Frenk ist aus dieser speziellen Arbeitsweise entstanden.
Kanis: Dort habe ich gewissermaßen große Text-Materialien so organisiert, dass sie erzählerisch etwas zum Leuchten bringen, sich gegenseitig infrage stellen aber trotzdem noch einen Erzählfluss behaupten. Das ist eine sehr konsequente Form von Regie-Dramaturgie.
Die Brüchigkeit von Erinnerungen
"Jenseits der Kastanien" ist eine autobiografische Erzählung, in der die 1986 geborene Autorin Marina Frenk auf ihre Lebensgeschichte als Flüchtlingskind einer russisch-jüdischen Familie zurückblickt. Unterschiedliche Erzählstränge vermitteln dem Hörspiel eine assoziative Qualität und verdeutlichen gleichzeitig wie brüchig Erinnerungen sein können. Immer wieder geht es um die Bedeutung von Heimat und ihre Rolle für die Identitätsformung eines Menschen. Das gibt dem Stück trotz Frenks humoristischem und manchmal auch zynischem Erzählstil eine melancholische Qualität.
Kanis: Über dem schwingenden turbulenten Bericht der Emigration liegt immer dieser Subtext einer ganz schlimmen Vernichtung und quasi einer Migrationsgeschichte, die eine ganz schlimme ist. Und das liegt in der Trauer der Musikalität, in der Trauer der Lieder, die Marina Frenk geschrieben hat.
Hörbeispiel 1: "Jenseits der Kastanien"
Der Musik kommt in "Jenseits der Kastanien" eine besondere Rolle zu. Marina Frenks Erzählungen werden im ersten Drittel des Hörspiels mit einem Klavier musikalisch kommentiert. Stimme und Instrument treten in einen Dialog.
Kanis: Das Klavier strukturiert den Denkverlauf von Marina, wo sie aufhört zu sprechen, spielt das Klavier gewissermaßen das Ungesagte weiter und dann übernimmt sie wieder.
Hörbeispiel 2: "Jenseits der Kastanien"
Assoziatives Hören
Deutlich ruhiger geht es in Roland Schimmelpfennigs Hörspiel "Die vier Himmelsrichtungen" zu. Die Musik übernimmt hier keine Kommentarfunktion. Stattdessen trennt sie die im Stück auftretenden Sprachinseln voneinander ab. Sie schafft kurze Denkpausen, in denen das Gehörte verarbeitet werden kann. Mit einer kunstvollen Sprache entwickelt Schimmelpfennig eine Geschichte, die nicht vollständig nachzuvollziehen ist, in der griechische Mythologie mit märchenhaften Eindrücken und surrealen Alltagsbeobachtungen verschmilzt. Beim Hören driftet die Aufmerksamkeit immer wieder ab, um im nächsten Augenblick der Geschichte wieder zu folgen. Für Stefan Kanis ist das keine negative Eigenschaft des Stücks. Im Gespräch erwähnt er den Hörspiel-Regisseur Walter Adler, der mal gesagt haben soll:
Kanis: Es ist völlig okay, wenn ich bei einem Hörspiel teilweise an etwas ganz anderes denke. Das ist eine innere Kraft des Hörspiels. Gerade diesen Freiraum auch möglich zu machen, und dann taucht man wieder ein in die Welt. Mir geht es auch so, dass mich an dem Stück bestimmte Passagen viel mehr interessieren als andere. Ich glaube auch Schimmelpfennig will nicht, dass man das im Ganzen als schlüssig und als geschlossen wahrnimmt.
Hörbeispiel 3: "Vier Himmelsrichtungen"
Stefan Kanis studierte in Leipzig und Wien Theaterwissenschaften. Seine Karriere beginnt am Wiener Burgtheater, wo er zunächst als Dramaturgie-Assistent tätig ist. Die strengen hierarchischen Verhältnisse missfallen ihm, so dass er nach kurzer Zeit beschließt zu gehen und über eine Produktion am Berliner Ensemble beim MDR als freier Hörspiel-Redakteur landet. Das Hörspiel betrachtet er bis heute aus der Perspektive des Theaters.
Kanis: Zum einen, dass ich immer sehr von der Umsetzung her denke. Ein Text ist für mich immer nur ein Text, der ins Radio gehört. Da unterscheide ich mich vielleicht von Kollegen, die aus der Literaturwissenschaft kommen oder aus der Literatur im Allgemeinen. Manchmal höre ich sogar wie ein Schauspieler ein 'und' spricht, wenn ich den Text lese. Das ist vielleicht so ein Blick, der bei klassischen Dramaturgen möglicherweise anders gelagert ist.
Der Verlust von Utopien
Einen Bezug zum Theater weist auch das Hörspiel "Der Bau" auf. Es basiert auf Heiner Müllers gleichnamigem Theaterstück, das wiederum Motive aus Erik Neutschs Roman "Spur der Steine" verarbeitet, einem der meistgelesenen Bücher der DDR. Es geht um den Aufbau eines Chemiekombinats, der immer wieder unterbrochen werden muss. Die sozialistische Misswirtschaft führt zu Materialknappheit. "Der Bau" thematisiert aus historischer Perspektive das Scheitern des Kommunismus und ist zugleich auch ein Stück, das unsere Gegenwart heute kommentiert.
Hörbeispiel 4: "Der Bau"
Kanis: Vielleicht ist es auch gar nicht mehr zu haben, nämlich eine utopische Vorstellung, was uns in der Gesellschaft fehlt und den Wunsch, das herzustellen. Ich hoffe, dass wenn man in diese Geschichte hinein hört, auch in tiefere allgemeingültige Schwierigkeiten des Menschen in der Moderne hören kann: Beschleunigungsfragen, Ausbeutungsfragen.
"Der Bau" thematisiert nicht nur den Verlust von Utopien, sondern auch ihre Nebenwirkungen, die sich beispielsweise in brutaler Umweltzerstörung niederschlagen können. Man denke nur an die Heilsversprechen von Kohle- und Atomkraftwerken und ihre negativen Konsequenzen für die Natur. Damit zieht das Stück einen weiteren Bezug zur Gegenwart: Es weckt Assoziationen an den heutigen weltumspannenden Klima-Aktivismus und demonstriert, dass auch historische Hörspielstoffe aktuelle Ereignisse kommentieren können.
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