Reihe: Wirklichkeit im Radio

Bananen-Heinz

54:57 Minuten
Schriftsteller Ror Wolf am Tischkicker in Mainz, 2006
Ror Wolfs Fußballstücke waren Meilensteine des O-Ton-Hörspiels. Im Anschluss an sie entstand die Collage „Bananen-Heinz“. © imago
Von Ror Wolf |
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„Was soll ich Ihne saache ...“ – Bananen-Heinz aus Hessen ist Hausierer und fliegender Händler, vor allem aber: ein begnadeter Sprachperformer.
"Ich hab mehr Verdruss gehabt wie gut", sagt Heinz B., geboren 1903 als Sohn eines Friseurs. Das, was man ein abgesichertes bürgerliches Leben nennt, hat er nie kennengelernt. Der Erste Weltkrieg verhindert seine Berufsausbildung; er wird Hilfsarbeiter, Hausierer, fliegender Händler. Er hat gelernt, mit Worten zu überleben, für eine Weile ist er Herrscher aller Bananen - und im nächsten Moment wieder der Ausgesperrte und Herumgeschubste. Seine hessische Suada, vom Autor in vielen Begegnungen aufgezeichnet, war ein wichtiges "Existenzmittel" des fliegenden Händlers, der mit 80 Jahren dann von Fürsorge lebte.

Reihe: Wirklichkeit im Radio

Bananen-Heinz
Von Ror Wolf
Regie: der Autor
Ton: Birgit Rahmsdorf
Produktion: HR 1983
Länge: 46'13
Eine Wiederholung vom 25.01.2019 aus dem Dlf Kultur

Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
"Ich bin ein Collageur" sagt Ror Wolf über sich selbst und bezieht dies sowohl auf seine etwa 4000 Arbeiten als Bildender Künstler (in der Schule von Max Ernst), als auch auf seine legendären Originalton-Hörspiele, zum Beispiel aus dem runden Kosmos des Fußballs: kein Akteur, dem er nicht das Mikrofon vor die Nase gehalten hätte: "…den Spielern, den Trainern, den Schiedsrichtern, den Reportern, und vor allen (mit) den Zuschauern, bei meinen ausführlichen Wanderungen über Tribünen und Stehkurven, bei Busfahrten zu gnadenlosen Auswärtsspielen, bei Fan-Club-Festen, an Kneipentheken, oder an den Rändern der Trainingsplätze, wo man die wirklichen Experten trifft." Einer dieser "Experten", den Wolf am Rande des Trainingsplatzes kennenlernt, ist Heinz Banz, ein Straßenhändler aus Seligenstadt bei Offenbach. Und hingerissen von seiner Art zu sprechen und zu erzählen, folgt Wolf ihm (samt Mikrofon natürlich) durch Kneipen und Straßen, lässt sich zu Heinz nach Hause einladen und immer wieder von vorne aus seinem Leben erzählen. "Ich bin Jahrgang Nulldrei…" oder "Nulldrei, Jahrgang Nulldrei, bin ich geboren"… Aus diesen Aufnahmen entsteht (1983 für den Hessischen Rundfunk) eines seiner eher seltener gespielten, von der ARD, wie Wolf es ausdrückt, "nicht wirklich angenommenen Stücke": "Bananen-Heinz". Es besteht zu 97,5% aus Originalton-Aufnahmen mit Heinz, der Rest ist aber mindestens genauso interessant und verdeutlicht das Berufsverständnis des Collageurs Ror Wolf, der auch unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer firmiert.
Im Feature-Genre gehörte es lange (und mitunter bis heute) zum "guten Ton" einer Sendung, eine akustische Kontinuität herzustellen, einen homogenen, konsistenten Gesamt-Sound, in dem die unterschiedlichsten Quellen am Ende klingen "wie aus einem Guss". Akustische Ortswechsel und Binnenschnitte im Originalton werden kunstfertig mit Stützatmos kaschiert oder abgefedert und Autoren in der Technik-Schulung darauf eingeschworen, nicht mit wechselnden Mikrophonen zu operieren und die Arbeit an der Kontinuitäts-Illusion, die im Studio dann vollendet wird, schon im Aufnahmeprozess mitzudenken. Also im Grunde eine Ästhetik zu schaffen, die der akustischen Collage konträr entgegensteht. Was würde Alfred Andersch dazu sagen, der das Feature als die "Montageform par excellence" definiert hat? Der Collageur macht seinen Arbeitsprozess auf freimütige Weise transparent, zeigt sein Instrumentarium, im Werk. Er spielt bewusst mit der Materialität seiner Aufnahmen, mit Brüchen, Abrissen und Rändern und legt scheinbar ohne Beklemmung seinen kompositorischen "Quellcode" offen.
Auch in Ror Wolfs "Bananenheinz" ist das der Fall… Und das zeigt sich am deutlichsten in den verbleibenden 2,5%, die nicht O-Ton sind, sondern zwischengeschnittene Atmo-Partikel. Diese lassen Vermutungen darüber zu, wo Wolf und Banz sich herumgetrieben haben könnten. Aber auch diese sind nicht homogenisiert, dienen nicht als geschmeidige Brücke zwischen A und B, sie binden sich weder an den zu Ende gehenden O-Ton, noch an den beginnenden, sondern dokumentieren schlichtweg Wolfs Abneigung gegen die Kontinuitäts-Illusion.
Selbst am einfachen Küchenradio werden dem Hörer vielleicht die unkaschierten Schnitte auffallen. Weil Ror Wolf die Aufnahmen an akustisch sehr unterschiedlichen Orten gemacht hat, mal ist es ein ruhiges Zimmer, mal eine laute Bierkneipe, und angepasst an den jeweiligen Ort spricht Heinz natürlich ganz unterschiedlich, mal im ruhigen Ton des Zwiegesprächs und mal auch hörbar gegen einen trubeligen Hintergrund an … Heinz also in verschiedenen Haltungen.
Wolf: "Es war mir wichtig, kenntlich zu machen, dass es sich hier nicht um die Wiedergabe eines langen Gesprächs handelt, das wir jetzt eins zu eins nachhören." Sondern um eine Collage des Ungleichzeitigen, Partikularen. Um das Arrangement heterogenen Materials in eine zeitliche Folge.
Dem Dokumentar-Puristen mag die Vorgehensweise des Collageurs vielleicht suspekt sein. Diese mitunter atemlos, von links nach rechts springende Anordnung von Aufnahme-Sprachfetzen unterschiedlichster Herkunft, die krude aus dem Redefluss herausgestanzten Halbsätze, einzelne Wörter gar, haben mit der klassischen Dokumentation nicht mehr viel gemein. Hier liegt das Interesse nicht auf der Aussage eines Einzelnen in einem übergeordneten Sinnzusammenhang (vielleicht einer thematischen Erörterung) , sondern die Sprache, der Sprechakt selbst wird hier thematisiert. …. etwas den Sprechenden "Depersonalisierendes", …. O-Ton-Partikel-Schlachten, in denen sprechende Menschen, so die Kritik der Zeitgenossen, im Grunde gar nicht mehr als individuelle Personen auftreten, sondern nur noch als Lieferanten von Laut-Material, das der "Autor" dann nach Belieben am Schneidetisch verkochen darf. "Der Mensch verschwindet am Schneidetisch" mahnte 1972 Wilhelm Genazino und bestand darauf, dass auch das Originalton-Hörspiel "auf jeden Fall komplette Personen oder Sachen vorführen" müsse. Auf seine Vollständigkeit und Unversehrtheit kann der "Naturdarsteller", wie Wolf seine O-Ton-Lieferanten nennt, hier nicht hoffen.
Anders als in der Fotografie vielleicht, wo der singuläre Moment, der einmal und exemplarisch eingefangene Augenblick, zum "Portrait" wird, arrangiert der Audio-Collageur sein Material in Schichten. Er umkreist sein Sujet, sucht es immer wieder auf, bringt es nochmal zum Sprechen, lässt es noch einmal von vorne erzählen …"Jahrgang Null drei … vom Kriech wolle se wisse?" Anläufe. Versuche. Kreisbewegungen.
Heinz Lebensgeschichte hat es in sich: Hunger und Entsagung, eine an den Krieg verlorene Kindheit, die Überlebenskämpfe einer nie abgesicherten Biographie. Chronologisch geordnet und sauber geschnitten, hätte Ror Wolf daraus eine exemplarische oral history des 20. Jahrhunderts bauen können, aber sein Interesse lag woanders. Er will, mittels der Collagetechnik den Entstehungsprozess quasi im Werk abbilden. Um – gegen die Illusion – aufzeigen zu können, dass es eine souveräne, abgeschlossenen Form des unmittelbaren "aus dem Leben Erzählens" nicht geben kann. Und so dokumentiert Ror Wolf nicht nur seine eigenen, hartnäckigen und findigen Annäherungen an diesen Mann. Sondern er überlässt dem Hörer den Originalton in einer quasi unbereingten Form. Er erlaubt uns, über den Inhalt des Gesagten hinaus, über den Akt des Sprechens selbst und seine mediale Verarbeitung nachzudenken.
Das ist im Fall des Straßenhändlers Heinz Banz von besonderem Charme, weil man im Ton seines freien Erzählens, in seinen saloppen, wie aus dem Ärmel geschüttelten Redewendungen, immer auch, wenn man so will, den Verkäufer mithören kann, der gelernt hat, seine Geschichte an den Mann zu bringen … womit er sich "eine schöne Mack" (also D-Mark) machen und wie nebenbei auf Ror Wolfs Tonbändern verewigen konnte.
Giuseppe Maio
Unsere Reaktionen:
"Für mich eindeutig ein Kandidat. Ich hänge Heinz an den Lippen, folge ihm durch die Jahrzehnte, aber was mich wirklich hinreißt, ist seine "Performance" (im besten Sinne!)."
"Beim ersten Mal hab ich zugegebenermaßen nicht besonders viel verstanden und ich frage mich, ob diese Aufnahme am gewöhnlichen Radio gut genug rüberkommt akustisch. Also vielleicht sollten wirs auch gleich 2x hintereinander spielen…"
"Worauf soll man hören? Irgendwo zwischen Bottroper Protokolle (was denken einfache Menschen) und Preislied (wir spüren kollektive Redemuster auf). Ich mag es, aber (siehe Eingangsfrage) ich finde nicht den Kanal, auf dem ich es hören kann."

Ror Wolf (1932–2020), Schriftsteller und Grafiker, wurde mit Radio-Collagen aus Fußball-Konferenzschaltungen bekannt, zum Beispiel: „Schwierigkeiten beim Umschalten“ (HR 1978) oder „Der Ball ist rund“ (HR 1978). In Saalfeld/Thüringen geboren übersiedelte er 1953 in die Bundesrepublik und publizierte Prosa, Lyrik und Bildcollagen, aber auch Literatur-, Theater- und Jazz-Kritiken. Von 1961–1963 war er Redakteur beim Hessischen Rundfunk. Sein Stück über „Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika“ (SWF/HR/NDR/WDR 1986) wurde 1988 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet.

Ausgewählte Radiostücke
"Die heiße Luft der Spiele" (SDR 1972)
"Die Stunde der Wahrheit" (HR 1974)
"Schwierigkeiten beim Umschalten" (HR 1978)
"Rückblick auf große Tage" (HR 1978)
"Der Ball ist rund" (HR 1979)
"Merkwürdige Entscheidungen" HR 1979
"Die alten Zeiten sind vorbei" (HR 1979)
"Expertengespräche" (HR 1979)
"Heinz, wie ist Deine Ansicht?" (HR 1979)
"Cordoba Juni 13 Uhr 45" (HR 1979)

Originalton-Hörspiele
"Die Einsamkeit des Meeresgrundes" (WDR/SDR 1979)
"Das langsame Erschlaffen der Kräfte" (BR 2006)
"Der Chinese am Fenster (WDR/HR 1971)
"Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika" (SWF/HR/NDR/WDR 1986)
"Die Durchquerung der Tiefe in dreizehn dunklen Kapiteln" (SWF/DLF/HR 1997)
"Die neunundvierzigste Ausschweifung" (SWR 2007)
"Die Vorzüge der Dunkelheit" (RBB/WDR 2012)

Alle Sendungen aus der Reihe "Wirklichkeit im Radio" finden Sie hier.