Reihe: Wirklichkeit im Radio – ein legendäres O-Ton-Feature

8 Uhr 15, OP III, Hüftplastik

51:25 Minuten
Ein Operationssaal in den 1970er Jahren
Ein Operationssaal in den 1970er Jahren © picture alliance / dpa / Straube
Von Peter Leonhard Braun |
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Wie ein akustischer Film verfolgt dieses wegweisende Feature aus dem Jahr 1970 den Verlauf einer Operation. Die Routiniertheit der Chirurgen lässt stellenweise vergessen, dass ein Mensch unter dem Messer liegt.
Die Sendung war ein Experiment. Für den Autor, der gerade erst die Stereophonie und damit die Dimensionen des Raumes für das akustische Erzählen im Radio entdeckt hatte. Und für die Hörer, die auditiv direkt an den Operationstisch gesetzt wurden. Wo die Ärzte (und der Autor) mit sicherer Hand das Bild zerlegten, das wir uns gerne von der Einheit des menschlichen Körpers machen. "Man vergisst bald, dass die zu reparierenden Fälle Namen und Gesichter haben. Es war wie in einer Werkstatt für Autos: öffnen, zerlegen, Ersatzteile einpassen und schließen."

Wirklichkeit im Radio
8 Uhr 15, OP III, Hüftplastik
Aus dem Alltag eines Operationsteams
Von Peter Leonhard Braun
Regie: der Autor
Ton: Günter Genz und Manfred Hock
Produktion: SFB/BR/WDR 1970
Länge: 51'20

Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
Peter Leonhard Braun schrieb schon akustisch, als seine Texte noch von einem Schauspieler im Studio verlesen wurden. Sein Stil wartete sozusagen auf neue technische Möglichkeiten. In dem Stück "Londoner Abend" (SFB 1964) zum Beispiel schildert er ein Hunderennen. Er komponiert mit Worten das Crescendo der Erregung im Stadion, die anfeuernden Zurufe, das Jaulen der Tiere, das Sirren des elektrischen Hasen. Dann steuert der Regisseur Braun auf den dramaturgischen Höhepunkt zu und reißt den Regler hoch. Man hört die von BBC-Mikrofonen eingefangene Atmosphäre im Stadion, eindrucksvoll laut, aber flach – eine Monokulisse. Damit war Braun nicht zufrieden.
Als dann kurze Zeit später der Sender Freies Berlin beschloss, die Stereofonie nicht nur für Konzerte, sondern auch für Wortproduktionen einzusetzen, wollte Braun unbedingt dabei sein (siehe audio 1). Er kehrte von London in seine Heimatstadt zurück und schlug vor, die neue Technik in einer Dokumentation über die industrielle Produktion von Hühnerfleisch auszuprobieren. Damit stieß er zwar auf Vorbehalte – gackern links und gackern rechts, was soll das? – aber das Stück "Hühner" wurde 1967 realisiert. Es war die erste stereofone Dokumentation im deutschen Radio.
Braun war begeistert von der neuen Unmittelbarkeit der stereofonen Aufnahmen. Jetzt konnte er einen akustischen Raum gestalten, den Hörer mitreißen, das Ohr direkt attackieren. Endlich war die Geräuschebene ein gleichberechtigter Partner der Geschichte, nicht nur die Illustration eines Textes. Und drei Jahre später entstand dann das Stück, mit dem Braun den letzten Schritt hin zu seinem dramaturgischen Ideal der akustisch vollkommen aus Originaltönen komponierten Geschichte ging. Das Feature über eine Hüftoperation – Braun wählte nie idyllische Themen – besteht aus drei Elementen: einer lebhaft erzählenden Patientin, Saima Nowak, einem Operationsteam von Ärzten und Schwestern, die sich über jeden Handgriff verständigen, und einem vielfach übersprochenen Diktaphon, auf dem die Operation protokolliert wird. Kein Erzähler, keine Orientierung. Die Sendung beginnt mit der Stimme der Narkose-Ärztin, die die Spritze geben will und endet mit dem Aufwachen von Frau Nowak aus der Narkose.
Einem kleinen Text zur Ursendung kann man entnehmen, dass diese Form des akustischen Erzählens im Jahr 1970 nicht den Hörgewohnheiten entsprach. "Diese Sendung ist ein Experiment", heißt es da. Und später: "Die Aufgabe oder das Experiment dieser Sendung ist, einen akustischen Film herzustellen (siehe audio 2). Da beschreiben, erklären oder kommentieren keine Sprecher und Schauspieler mehr, was gerade geschieht, sondern das akustische Geschehen bleibt allein, es soll sich selbst erzählen. Es geschieht also nichts weiter als eine Stunde Realität. Und da mittendrin hängt das Doppelmikrofon, das sensible, stereofone Ohr – und hört genau zu." (aus den Sendeunterlagen des RBB)
Natürlich wusste Peter Leonhard Braun, dass Realität im Radio nicht einfach "geschieht". Er wusste, dass Mikrofone nicht einfach zuhören. Er wusste, dass er mit seinem SFB-Team fünf Mal bei fünf verschiedenen Operationen die Mikrofone aufgebaut hatte und dass er, der Autor und Regisseur, aus den bespielten Bändern die fugenlose Illusion einer Live-Operation im Studio mit Schere und Klebeband montiert hatte. Und er wusste auch, dass die Zuhörer zwar glauben, gerade würde der Oberschenkelhals von Frau Nowak lautstark durchgesägt, dass es aber nicht so war. Oder genauer: dass es darauf nicht ankam. Viele Jahre später bei einer Vorführung des Stücks 2007 in der Veranstaltungsreihe von "RadioTesla" erzählt Braun auch, dass er die Diktaphon-Sequenzen mit einem markanten Geräusch aufgerüstet hat, das er nachträglich im Funkhaus mit Hilfe der Lichtschalter aufgenommen hatte (s. Tanja Runow: "Von der Welt erzählen in vielen Stimmen", Magisterarbeit 2007, p71).
Im Jahr 1970 und für Peter Leonhard Braun stand der neue SOUND, die Kunstform des akustischen Erzählens im Vordergrund und nicht der Handwerkskasten der Radiokunst (siehe audio 4). Der medienkritische Diskurs über Täuschung oder Manipulation entzündete sich ohnehin eher an Stücken aus der Abteilung Hörspiel wie zum Beispiel dem "Staatsbegräbnis" von Ludwig Harig (1969) oder dem "Preislied" von Paul Wühr (1970. Aber das würde jetzt zu weit führen.
Für Generationen von Autoren war das Originalton-Feature das selten erreichte Ideal. Aber nicht alle Stoffe lassen sich so erzählen. Und nicht alle Hörer:innen schätzen gleichermaßen das 100-Prozentige eines O-Ton-Features. Peter Leonhard Braun erzählt mit Belustigung, wie er als Leiter der Feature-Abteilung des SFB den beliebten Radioerzähler Horst Krüger vergeblich zum Einsatz von akustischen Mitteln zu animieren versuchte.
"Horst Krüger war in den 60er, 70er, 80er Jahren der führende Reiseliterat in der Bundesrepublik. Dem habe ich alle unsere großen Produktionen vorgespielt, das hatte aber keinerlei Einfluss auf ihn. Horst Krüger ging auf eine Reise und was er dort sah, setzte er in sich selbst um und spuckte es irgendwann wieder aus: In einem unmöglichen Manuskript von ungefähr 36, 37 Seiten Länge, eng getippt. In einer Stunde kann man bestenfalls 32 Seiten unterbringen. Und dann sprach er dieses Manuskript auch noch selbst und er war ein schlechter Sprecher. Horst Krüger las rasend schnell, sodass der Regisseur eigentlich keine weitere Funktion hatte als ihn dauernd zu bremsen. Das Publikum liebte aber diese Sendungen. Bei meinen ausgefuchsten Produktionen waren wir glücklich, wenn wir 30-40 Hörerbriefe kriegten. Wenn Horst Krüger eine Produktion in seinem Eilzugtempo las, meldeten sich mindestens 300 Leute." (Bremer Hörkino 2010)
Marianne Weil
Gespräch mit Peter Leonhard Braun im Mai 2018
1. Das Feature wird akustisch
"Ich erinnere mich noch sehr deutlich an folgende Szene: Ich lebte damals in London und kam aus London mit einem Skript nach Berlin, um es vorzustellen und zu verkaufen, und platzte also in eine Chefsitzung hinein, wo der führende Toningenieur Krüger – wir nannten ihn Krüger Krüger, der Stereofonie wegen – uns anzuwerben versuchte, uns mit diesen neuen Möglichkeiten zu befassen. Eisige Ablehnung. Wir waren Literaten. Ich war der einzige, der damals, Zigarre rauchend, von einem neuen Handwerkskasten sprach und gesagt hat: Ich mache das. Ich schrieb dann aus London an meinen Feature-Chef: Ich mache was über die erste lebende Maschine. Das Huhn. Und ich mache das in Stereophonie, das Huhn, und dafür muss ich mit einem Toningenieur Brutanstalten, Gehege, Legefrabriken besuchen, und der Toningenieur muss dabei sein, weil es sich um eine neuartige Form von Aufnahme und deren Verwendung handelt.
Wir machten das also!
Wir waren nun als Pioniere unterwegs, wir hatten noch keine mobilen Aufnahmegeräte, wir konnten nicht aufnehmen, ohne eine Steckdose in der Nähe. Das Eigentliche war aber, dass du mit einer ganz neuen Form des direkten Zugriffs bei durchs Mikrofon zum Hörer rüber, den Hörer nicht nur etwas beschreibend berührst, sondern ihn reinziehst in diese neue akustische Realität. Das war der Punkt. Und ich weiß genau, wie ich damals die erste Szene baute über Hühner – das war ein alter Mono-Ton, was wir im Archiv hatten, über Hühner, die gaaagputtputtputt, sind so zehn Stück, die rennen im Hof rum und krähen, wenn da also ein Ei gelegt wird. Genau, das hab ich also beschrieben – in mono. Und dann hab ich gesagt in einer kurzen lapidaren Sprache: Quatsch, zehn Hühner – hundert, Tausend, halbe Million – und dann hab ich die Stereobühne aufgezogen, und ich stand also in der ersten aufgenommenen Batterie mit Zehntrausend Hühnern drin, und das ist gewaltig, das war wie eine Filmaufnahme, und meine Hörer draußen hab ich sozusagen genommen und hier reingepackt. Das wars."
2. Den Schreibtisch verlassen, wie ein Komponist arbeiten
"Also Braun ist jetzt unterwegs, Braun hat den Schreibtisch verlassen, Braun schreibt nicht mehr, sondern Braun nimmt auf, so wie auch ein Filmteam arbeiten würde und wird aus diesen Partikeln seine Dokumentation zusammenstellen. Und das ging in einem Zeitraum von vier fünf Jahren in langsamen Entwicklungsschritten. Sie müssen sich über eines klar sein: Wenn Sie schreiben, ist der erste Satz die Keimzelle, das Rückgrat der Angelegenheit. Der ist wie ein Ei, aus dem alles herauswächst. Und jetzt bricht mir meine eigene Verankerung weg, die Sprache, jetzt soll ich plötzlich wie eine Art Komponist verhalten und aus akustischem Material – nicht mehr das Wort ist der Anfang, sondern der Ton – das war wahnsinnig schwer für mich, dieses Verlassen der festen Plattform der eigenen Sprache und Ausdrucksfähigkeit und das Herübergehen in etwas Luftiges, den Ton – das war der Punkt.
Und diese Entwicklungsschritte, wo wir uns pro Produktion immer weiter vorangetastet haben, immer im Zurückdrängen der Sprache, also immer weniger erklärt, immer knappere Sätze benutzt, bis zur Hüftplastik, wo kein Wort mehr vorkommt, das irgendein Schauspieler spricht. Sondern die Hüftplastik ist also eine Komposition, die eine schwierige Operation, damals fast die größte und schwierigste, darstellt, nur aus aufgenommenen Materialien. Und deshalb hab ich damals geschrieben "Das ist ein Experiment", denn das wusstest du ja nicht, als wir das Ding rausgelassen haben, ob sich das vermittelt oder nicht."
3. Frau Nowak, eine geborene Erzählerin
"Und dann traf ich Frau Nowak und Frau Nowak ist eine geborene Erzählerin, und Frau Nowak trank gerne Sekt. Und ich habe dann Frau Nowak vielleicht zehn fünfzehn Mal besucht, hab jedes Mal einen Piccolo mitgenommen, und dann haben wir beide, ganz persönlich, Schritt um Schritt besprochen, wie das ist, wenn du das hast. Diese langsame Einschränkung des Gehens, das Anwachsen des Schmerzes, das Nicht-mehr-schlafen-können, das Kämpfen um den Operationstermin, das Kämpfen an deinem allgemeinen Arzt vorbei, der ein Stümper ist, das Testament machen, das war ja ne Operation damals, die nur alle zwei bis drei Wochen vorkam und nur vom Chefarzt gemacht wurde.
Frau Nowak ist dann auch diejenige, die nachts bevor sie operiert wird, einen draufmacht und diesen fabelhaften Satz prägt, wo Licht ist, gehen wir rein, und auch in eine Disco geht und mit sonem jungen Spund tanzt, ich zitiere sie jetzt, ich habs nach so vielen Jahren noch in Erinnerung, "und der denkt dann vielleicht, wat will denn die Olle hier, und ich hab das ganz geschickt gemacht, auf meinem gesunden Bein gestanden und mit dem andern son bisschen gewackelt – und morgens dann die Operation. Dieser Zugriff eines so vitalen lebendigen Menschen, der das erzählt und diese Schritte macht, der Verzweiflung, der Entschlussfassung und der Genesung – wie sie erzählt, und dann hab ich mit meinem Rollwagen zehn Schritte gemacht und dann dreißig Schritte gemacht und am Schluss kommt dieses große Geschenk – sie träumt, und sie träumt, dass sie die Treppe herunterläuft, immer zwei drei Stufen auf einmal, und wie sie das erzählt, willst du dir selbst als Gesunder sone Operation machen lassen."
4. Konferenz in Frankfurt – Hörbarmachen der Schnitte
"Ich erzähle Ihnen jetzt eine Geschichte. Wir hatten eine Sitzung in Frankfurt am Main, viele viele Jahre her, und wir stellten – Berlin, mein Chef Berthold die Möglichkeiten der Sterefonie vor mit Beispielen und hatten ein volles Auditorium aus Redakteuren, aus Autoren und so weiter, und die begannen nach ungefähr drei vier Minuten, Zeitungen hervor zu holen und Zeitung zu lesen. Null Interesse. Warum? Man hatte jeden Schnitt zu zeigen. Das war die Auffassung damals. Nur wenn ich einen Schnitt deutlich mache, zerbreche ich einen Kommunikationsvorgang. Ich habe jetzt mit Mühe meinen Hörer eingefangen, der hört mir wirklich zu und jetzt mach ich plötzlich einen Schnitt, hörbar, und dann muss ich ihn wieder neu ranholen und dann bis zum nächsten Schnitt. Also es war wirklich eine Konfrontation von zwei verschiedenen Arbeitsauffassungen. Dort war es also das politisch manifestierte Sichtbarmachen von Realität und hier bei uns war es die Kunstform des Erzählens! Und, es war ganz merkwürdig, was damals alles gesagt wurde in der Verneinung, dass Radio auch eine bestimmte Süffigkeit, einen bestimmten Schmelz, eine bestimmte Kraft entfalten muss, also kein Denkvorgang ist, den ich immer wieder in Kapitel zerschneide, sondern der durchzugehen hat, weil ich meinem Hörer nicht nur etwas erzähle, ich nehme ihn ja mit – das kann ich nicht, wenn ich jeden Schnitt hörbar mache.
In dieser Konferenz war auch die Meinhof, die ja damals auch Features schrieb, sie vertrat vehement die Auffassung, dass also jede Form lukullischen Hörens unangebracht ist. Man hat auch das Honorar mit den aufgenommenen Leuten zu teilen – wir hatten wirklich zwei radikale Positionen, so, jetzt sind Sie wieder dran."

Biografie
Peter Leonhard Braun, geboren am 11. Februar 1929 in Berlin, studierte Volkswirtschaft an der Freien Universität Berlin und schloss 1953 mit einer Arbeit zur "Soziologie des Rundfunks" ab. Er schrieb Feuilletons für das Berliner Studio des NWDR und den Sender Freies Berlin aus Berlin, Paris und London. 1967 entstand "Hühner", die erste stereofone Dokumentation im deutschen Radio. Es folgten Maßstäbe setzende Programme: "Catch as Catch Can" (1968), "8 Uhr 15, Operationssaal 2, Hüftplastik (1970) und "Hyänen" (1971). Für "Glocken in Europa" (1973) wurde er mit dem Prix Italia ausgezeichnet. 1973 initiierte er die "Internationale Feature Konferenz", die seitdem jährlich wechselnd Feature-Macher aus aller Welt zusammenbringt. Von 1974-1994 war er Leiter der Feature-Abteilung des SFB. Von 1979 an war er verantwortlich für den Hörfunksektor des Prix Futura Berlin, ab 1988 maßgeblicher Organisator des Radio- und Fernsehwettbewerbs PRIX EUROPA. 2012 wurde Braun mit dem Axel-Eggebrecht-Ehrenpreis ausgezeichnet.
Ausgewählte Radiostücke
"Hühner – Eine sterophone Dokumentation" (SFB/BR/WDR 1967)
"Catch as catch can" (SFB/WDR/BR/SR 1968)
"Hyänen, Plädoyer für ein verachtetes Raubtier"
(SFB/WDR/BR/NDR/SR/SRG Basel/NOS Hilversum 1971)