Bis 1992 befand sich im Podewilschen Palais in Berlins Mitte das „Haus der jungen Talente“. Eine Einrichtung mit vielen Freizeitangeboten, um junge Menschen im Sinne einer sozialistischen Kulturpolitik zu bilden. Im Frühjahr 2002 wurden im Keller des „Podewil“ zwei Koffer mit Tonbändern entdeckt: ein wildes Sammelsurium aus dokumentierten Diskussionen, Aufzeichnungen politischer Veranstaltungen mit musikalischem Rahmenprogramm oder ohne, einer Weihnachtsfeier, dem Besuch eines russischen Chores, vorgetragenen Gedichten im Stile des sozialistischen Realismus und weiteren Glorifikationen der Gegenwart und Vorahnungen eines kommenden kommunistischen Fabellandes. Frieder Butzmann hat das Material gesichtet.
Ehemals Podewil'sches Palais, Haus der jungen Talente, Berlin. © picture-alliance / KPA
Reihe: Wirklichkeit im Radio
Es stand ein Haus in Ostberlin
Aus dem Koffer der jungen Talente
Von Frieder Butzmann
Regie: der Autor
Mit: Frieder Butzmann und Thomas Kapielski
Ton: Alexander Brennecke
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2005
Länge: 54'07
Eine Wiederholung vom 09.11.2005
Frieder Butzmann, 1954 in Konstanz geboren, Komponist, Musiker, Autor und Vortragsreisender, Hörspielautor, Performancekünstler. Verdingt sich weltweit als „Crachmacheur“. Auftritte im Kreuzberger SO 36, Museum of Modern Art in New York, in Paris, Rotterdam, Kopenhagen. Seit den 1980er Jahren zahlreiche Arbeiten für das Radio, darunter „Das Pfeifen im Walde“ (mit Thomas Kapielski, DLR Berlin 1997), „Das Spunkkrachlexikon“ (DLR Berlin 2001), „Alethes Soundbeams“ (Autorenproduktion für DKultur 2006), „juHrop – Klingonische Oper“ (DKultur 2009), „Burtts Family Combo“ (DKultur 2012) und verschiedene Wurfsendungsserien für Deutschlandfunk Kultur, z.B. „Exoplanet. Muster möglicher Welten“ (2016) und zuletzt „Wunderwelt“ (2021).
Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
Trouvaillen, Florilegien und explosive Funde
Im Frühjahr des Jahres 2002 wurde im Podewilschen Palais ein Schatz gehoben. Zwei staubige Koffer voller Tonbänder. Alle im Folgenden zu hörenden Tondokumente, Musiken und Geräusche stammen aus dem erwähnten zwei Koffern.
Radiomenschen lieben solche Funde. Und sie machen Sendungen daraus. Auf den Reiz der Patina, den alte Tondokumente angesetzt haben, können sie sich verlassen. Sehr viele dieser Archivstücke werden präsentiert wie ein klingender Blumenstrauß, liebevoll zusammengebunden und mit einem Augenzwinkern überreicht. Es gibt aber auch die ‚harten‘, investigativen Varianten. Bei den "Stammheim-Bändern" etwa lässt man das Augenzwinkern weg. Die Originalaufnahmen aus dem Prozess gegen RAF-Mitglieder werden als scoop präsentiert. Und bei einem anderen Feature dieser Reihe (Unser Vater, der du bist in der Hölle) werden die Tonkassetten eines Sektenführers in die Geschichte der letzten Tage dieser Sekte integriert. Die Tonlage, mit dem der Inhalt eines Fundes präsentiert wird, kann also sehr unterschiedlich sein. Und wie bei allen Featureformen ist der Gestus des Erzählers Teil der Geschichte.
Und wie ist es bei Frieder Butzmann und dem Koffer der jungen Talente?
Da wird der Koffer angesungen! Mit einer (lustigen? ironischen? verheerenden?) Version von "The House of the Rising Sun". Hell, süddeutsch und unverfroren poltert Frieder Butzmann samt Gitarrenbegleitung ins Geschehen. Manche horchen da auf, andere schalten ab. Wir aber … nehmen uns erst mal Zeit, die Koffer, die Genese des Stücks und seine Machart genauer anzuschauen. Auf den Gesang kommen wir noch zurück.
Frieder Butzmann, Musiker, Westberliner Szenefigur seit den Achtzigern, Teil der "Genialen Dilettanten", Monteur, Collageur, "Krachmacheur", ein einschlägig bekannter ‚Typ‘, der immer noch wie frisch und unbedarft aus dem Badischen hereingeschneit wirkt und gleichwohl mit Avantgardegrößen wie Genesis P-Orridge oder Alexander Hacke gearbeitet hat – Frieder Butzmann bekam den Hinweis auf den Koffer von Elke Moltrecht, verdienter langjähriger Kuratorin vor allem von experimenteller Musik; zuvor hatte sie im thüringischen Bad Köstritz das Heinrich-Schütz-Haus mit aufgebaut. Sie, die DDR-Sozialisierte, kannte den Wessi Frieder Butzmann von vielen gemeinsamen Veranstaltungen, vor allem im Podewil, dem Haus, in dem sie arbeitete und das zuvor, von 1954-1991, das Haus der Jungen Talente beherbergt hatte: eben das FDJ-Zentrum für Jugendkultur, um das es sich in diesem Hörstück dreht.
Es gab also ein Umfeld, in dem das Feature entstand. Der Koffer war nicht von einer Investigativredaktion aufgespürt und sichergestellt worden. Er hatte sich geöffnet innerhalb einer Vertrauenskonstellation, zwischen Leuten, die einander und ihre Kunst kannten und die wussten, was sie voneinander erwarten konnten. Der Witz dabei: hier wurde einer, der einer Subkultur zugerechnet wurde, aber längst auch etablierte Kanäle wie die universitäre Lehre und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bespielte, auf das Archiv einer staatlichen Einrichtung angesetzt, betrieben von offiziellen kulturpolitischen Stellen der DDR, das aber jetzt, 14 Jahre nach dem Ende der DDR, seinerseits wie eine Subkuktur wirkte. Und dann war es auch noch einer, der dezidiert für Westberlin stand.
Dürfen Cis-Menschen über Trans-Menschen schreiben, weiße Männer über schwarze Frauen, Privilegierte über Marginalisierte – und umgekehrt? 1998 war die Debatte noch weit von ihrer heutigen Schärfe entfernt, aber es gab schon den "Besserwessi". Und den um diesen Begriff kreisenden Diskurs: was weißt du, West-Sozialisierter, denn schon über den Osten, was erlaubst du dir, oberflächlich und dann auch noch urteilend darüber zu reden, am besten noch mit dem unausgesprochenen Triumph im Unterton, dass ihr ja gewonnen hättet? Der Vorwurf ist oft berechtigt. Unzählige Male haben sich Westler bei Ost-Themen im Ton vergriffen, haben Vorurteile reproduziert oder Sachverhalte ignoriert. Weil das so ist, gibt es inzwischen eine Palette von Maßnahmen. Sensibilisierungstrainings. Faktenchecks. Kontroll- und Beratungsinstanzen. Und manchmal auch die Entscheidung: X ist zu ‚biassed’, um über Y veröffentlichen zu dürfen. Frieder Butzmann aber stürzt sich mit voller Chuzpe in das Unternehmen. Und wie geht er mit den Tonbändern aus dem Osten um? Er sagt es im Prolog.
Wie viele Schnitte sind erlaubt oder: ‚Ich will das Material hören‘
"Keine Aufnahme wurde manipuliert, lediglich durch unzählige Schnitte in 55 Minuten gegeneinander gesetzt und teilweise rhythmisiert. Der Autor will eine gewisse Sympathie für das Leben in dem Haus nicht verstecken, und er weiß um – aber fürchtet nicht – das Pathos der Sprache, die Leere des großen Wortes sowie die doppelten Böden und emotionalen Fallen."
Auch wenn die Soundmontagen sich öfter exzentrisch anhören – der Erzähltext ist in keiner Weise verklausuliert, man möchte ihn bald treuherzig nennen. Dieser Erzähler ist ziemlich präsent. Insgesamt zehn Mal meldet er sich in verschiedenen Formen, auf die wir noch zu sprechen kommen, zu Wort.
Anfangs liegt er sein Verfahren und seine Haltung offen, fast wie in einem Disclaimer. Auch im weiteren Verlauf ist der Erzähler keinesfalls anarchisch oder ausgeflippt. Er organisiert, strukturiert und benennt sein Material fast wie in einem Uni-Referat: chronologisch nach Jahrzehnten von den Fünfzigern bis zur Wende, unter Erwähnung von wichtigen Einrichtungen des Hauses (vom Keramikkurs bis zum Computerclub) sowie markanter Ereignisse der Haus- und Zeitgeschichte: der Start der Sputnik-Rakete in den Fünfzigern; das FDJ-Liederfestival seit 1970, bekannt als "Woodstock des Ostens"; die Gründung des Omnibus-Chors 1975 und ein "Talentwettbewerb der Bezirke" in den Siebzigern; der Mauerfall 1989. Deutlich sind also die Rahmungen, auch Absicherungen, die der Erzähler setzt. Hätte man den Erzählertext nur geschrieben vor sich, würde er sich stellenweise so lesen, als habe das Haus der Talente selbst einen fleißigen Jungpionier beauftragt, eine Geschichte des Hauses samt Toneinspielungen zu verfassen.
Dieser Eindruck dreht sich um 180 Grad in dem Moment, wo man die akustische Inszenierung hört. Butzmann greift tief in die Trickkiste der Collage-, und Montagetechniken, die das Hörspiel seit Ende der sechziger Jahre (mit Vorläufern in anderen Künsten und dem berühmten Pionierwerk "Weekend") ausgebildet hat. Er rafft Schnipsel typischer Redeweisen zusammen, macht sie kenntlich und zeigt, wie viele alte Zöpfe, große Worte, leere Versprechungen, Anmaßungen, Autoritäten, Hierarchien, falsche Ansprüche und hohles Pathos die "jungen Talente" permanent zu hören bekamen. Das Lehrmeisterliche dieser Dauerermahnungen durch die Partei zeigt sich auch daran, wie viele alte Menschen zu hören sind, vor allem alte Männer. Er benutzt sein Material, um anderes Material zu kommentieren. Noch recht konventionell mit SciFi-artigen Klängen, die auch auf den Bändern zu finden waren, um den "Computerclub" zu unterlegen und ein Soundscape vergangener Zukunftseuphorie zu erstellen (ab 26’50). Drastischer dann in der Passage, die Frieder Butzmann selbst als "Spartakus-Barock" bezeichnet. Ein kurzes Paukenmotiv wird geloopt und zu einem bombastisch-martialischem Rhythmus aufgepumpt. Darüber setzt er Splitter des Parteiliedes "Vorwärts und nicht vergessen" (ab 33’30). Die Miefigkeit des Staatsapparates und des DDR-Funktionärswesens tritt so in einen Kontrast mit ihrem permanenten revolutionären Pathos.
"Ich hab dafür einen Begriff: Spartakus-Barock. 1919 wurde da ‘ne Republik ausgerufen. In einem Haus mit wilhelminischen Barock. Und automatisch wurde das zum Spartakis-Barock. Eben dieses kämpferische "Auf, Genossen!", aber eigentlich rein ornamental."
Diese Passagen, in denen Butzmann sozusagen den Collage-Turbo aufdreht, stehen in Kontrast mit zwei Stellen, die lange und ungeschnitten bleiben und von denen man den Eindruck hat, Butzmann stimme ihnen zu oder halte sie mindesten für bedenkenswert. Einer ist ein Veteran des kommunistischen Widerstands im Dritten Reich, der daran erinnert, aus welcher Vorgeschichte heraus das revolutionäre Pathos zustande kam. Der andere ist Stefan Heym (der Name fällt aber nicht); er spricht das Schlusswort und den Abgesang auf die DDR (51‘05-52’41).
In dem Moment, wo sie weg konnten, zeigte sich der fürchterliche Fehler, den sie die ganze Zeit, 28 Jahre lang, gemacht haben, indem sie regiert haben … ich weiß nicht, wie. Einfach blöd.
Und dann wuchert – oder: gedeiht – im Haus der jungen Talente noch etwas anderes. Und hier sind wir bei dem, was am Anfang mit "Sympathien für das Leben in dem Haus" angesprochen wurde. Zum Beispiel die 17-jährige Sportlerin, die einem Reporter den Sieg ihrer Mannschaft zum Wohl des Sozialismus verkündet und dabei unsicher ist, tastend, den staatstragendenTon noch nicht richtig drauf hat und deshalb sympathisch wirkt. Vor allem angesichts der Ratschläge und Weisungen, mit denen sie qua Collage regelrecht umzingelt wird (21’32-23’53). Oder der Liederwettbewerb aller Bezirke (41‘47ff.), wo plötzlich Operette, Chanson, Lied zu hören sind – mit ehrlichem Bemühen und zugleich rührend unbeholfen. Auf einmal klingt es gar nicht mehr nach DDR und FDJ. Man hört ganz einfach junge Menschen, die sich zeigen, sich ausprobieren und ihre kleine Chance aufs Rampenlicht nutzen wollen. Keine parteigeleiteten Karrieristen – die an anderer Stelle erwähnt werden – sondern in einem völlig unschuldigen Sinn das, was das Haus im Namen trägt: junge Talente. Und wenn dann Musiker den Free Jazz spielen (ab 46’55), für den die DDR auch berühmt war, kommen sie sehr nah an das, was Frieder Butzmann zur gleichen Zeit wenige Kilometer entfernt in Westberlin gemacht hat.
Im Gespräch erinnert sich Frieder Butzmann an die Entstehung seiner Sendung. Die Geschichte klingt ziemlich nach Wildem Westen. Es habe damals noch Redakteure gegeben, die etwas gewagt hätten (Robert Matejka). Der wäre nach einer ersten Präsentation sofort begeistert gewesen, hätte ihm keinerlei Vorgaben gemacht, aber auch gesagt, er könne, wenn sie ihm nicht gefallen würde, die Sendung ganz kurzfristig wieder absetzen. Er, Butzmann, habe sich mit Haut und Haar ins Material gestürzt, beflügelt von der Freiheit, alles ganz nach seiner Façon machen zu können.
Kann man sich so etwas trauen? Sollte man sich so etwas trauen? So ganz frei von der Leber weg? Wie so oft kann die Antwort wieder ja noch nein lauten. Man kann es sich trauen, aber man kann damit scheitern. Nicht jede und nicht jeder kann es sich trauen. Es geht nicht ohne Hingabe, nicht ohne intensive Recherche, nicht ohne commitment zum Thema, nicht ohne einen individuellen und mehr als oberflächlichen Zugang, nicht ohne Talent und Beharrlichkeit. Es muss eine Konstellation zwischen Autorin oder Autor und dem Gegenstand da sein, die sichtbar und sinnfällig ist. Mut und Sensibilität müssen im richtigen Verhältnis stehen. Und dann kann es immer noch scheitern.
Das "einfach mal loslegen" geschah hier auf zwei Ebenen. Zu einen hat eine Redaktion anerkannt, dass hier ein sehr eigener künstlerischer Zugang da war, und nicht versucht, den zu kontrollieren und zu dirigieren. Zum anderen hat ein Künstler seiner Intuition vertraut und unbefangen sein eigenes Ding gemacht. Aber: ist Unbefangenheit hier das richtige Wort?
Und jetzt kommt das Singen. Am Anfang steht der Lagerfeuer-Evergreen "The House of the Rising Sun", umgedichtet auf das Haus der jungen Talente. Später eine Art Psalmodieren, die wohl an Brecht-Lieder in ihren Vertonungen von Eisler, Weill etc. erinnern soll. Wieder später eine Art volkstümlicher Schlager: "die Fünfziger Jahre, die sind ein hartes Brot". Immer hat es einen Bezug zum musikalischen Inhalt der Koffer, und immer klingt es zugleich nach Butzmann. Nach dem Sound, in dem er sich seit vielen Jahren artikuliert, dem Sound der genialen Dilletanten, der keine Scheu davor hat, sich zum Affen zu machen. Ich halte ihn nicht für kalkuliert oder für ein strategisch gewähltes Alleinstellungsmerkmal. Aber auch nicht für naiv. Er gehört zu Butzmann und wurde von ihm eingeübt in jahrzehntelanger künstlerischer Praxis. Darum geht er einher mit Reflektiertheit – Butzmann hät Vorträge über seine Kunst und lehrt an Universitäten – und auch mit Virtuosität: seine Collagetechnik ist präzise.
Warum der Gesang? Im Gespräch führt er einerseits die Tradition der Commedia dell’arte an, der Oratorien und der politischen Lieder. Man könnte noch großzügig Bluesgesang, Griot-Tradition und am Ende auch antike Ependichtung anfügen: sobald es etwas zu erzählen gibt, ist der Gesang nicht fern. Aber die Antwort für dieses Radiostück liegt viel näher.
"Da gab’s gar nichts zu überlegen", sagt Frieder Butzmann im Interview dazu, und: "da hätte jeder drauf kommen können." Die Brecht-Lieder, die Protestsongs, die amerikanischen Lieder, die beim Woodstock des Ostens auch in der DDR populär waren: Sie waren ihm nach tagelangem Hören der Bänder im Ohr und er hat, vielleicht aus Spieltrieb, vielleicht aus Notwehr, aufgegriffen und weiter gespielt, was das Material vorgab. Mimikry betrieben, selber den singenden Jungpionier gespielt. Gar nicht besonders subtil, ohne langes Besinnen, einfach drauflos, deswegen auch nicht immer perfekt intoniert und sowieso mit dem süddeutschen Akzent und dem hellen Timbre, ohne den es Butzmann eben nicht gibt. Was soll der Gesang – diese Frage müsste sich also ans Haus der jungen Talente richten. Denn Butzmann hat einfach nur zurück gesungen.
Ingo Kottkamp