Hörbild über den Kamienna-Prozess in Leipzig
Von Peter von Zahn
Produktion: NWDR 1949
Länge: 21'42
Reihe: Wirklichkeit im Radio
Peter von Zahn am Mikrofon im Studio des NWDR im Jahr 1951 © picture-alliance/ dpa
Hörbild über den Kamienna-Prozess in Leipzig
16:41 Minuten
Ein früher Originaltonbericht aus dem Jahr 1949 zeigt die Mörder des NS-Regimes als Dutzendfiguren. Und 1965 stößt die Recherche im Umfeld einer NS-Euthanasie-Anstalt auf eine Wand des Schweigens.
In Leipzig beginnt 1948 der Prozess gegen Angestellte einer Munitionsfabrik, die Juden aus Europa und Polen getötet oder sadistisch zu Tode gefoltert haben sollen. Peter von Zahns Bericht dokumentiert, wie biedere Menschen zu Verbrechern werden können.
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Eine helle Männerstimme, das Gegenteil von schneidig, eher weich, fast singend, beginnt die Sendung mit dem Namen des Ortes "Kamienna" und dem Satz: "Ich habe bis vor einigen Wochen diesen Ort noch nicht einmal dem Namen nach gekannt und so wird es den meisten unter Ihnen ebenfalls gehen." Ein typischer Satz für Peter von Zahn, der eindeutig "ICH" sagt, aber an strategischen Stellen rhetorisch auf die Seite seiner Zuhörer wechselt und das ICH zum WIR erweitert. Die zweite Herstellung dieser Art von WIR bei 2’12 schließt auch die Opfer ein, eine delikate Gruppenbildung, denn die Opfer waren vor allem Juden, zu denen die Deutschen über 12 Jahre lang eine maximale Distanz aufgebaut hatten: "Wenn Sie und ich unter diesen Arbeitern gewesen wären und man hätte uns heimlich gefragt, was seid ihr? so hätten wir heimlich geantwortet: Sklaven." Schließlich integriert er sogar die Täter, indem er sagt: "Und zu ihrem Unglück, aber auch zu unserem Unglück waren es Deutsche, welche den polnischen und jüdischen Sklaven zu Aufsehern und Meistern gesetzt waren."
Wie Brückenpfeiler zieht sich dieses rhetorische WIR durch den Bericht. Es dient nicht nur dazu, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen und ihre Abwehr zu überwinden. Gegen Ende (bei Minute 16’10’’) übernimmt es auch die Aufgabe, den Wahrheitsgehalt der berichteten Ereignisse zu bezeugen und Authentizität herzustellen. Nach der Einspielung einer Zeugenaussage, die die massenhafte Erschießung von Menschen in einer Grube im Wald geschildert hat, sagt die Stimme am Mikrofon: "Es ist nur vier Jahre her und es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass solches vor sich ging. Denn viele von uns haben es an vielen Stellen gesehen, ich selbst könnte die fürchterliche Wahrheit solcher Szenen beschwören."
Peter von Zahn zeigt sich nicht schockiert angesichts der brutalen Verbrechen, er spricht nicht von Schuld oder Verantwortung. Damit folgt er dem Rezept der Adenauerrepublik, die den Krieg als Ausnahmezustand sah und die Mitwirkung an Verbrechen als dunkle Seite der menschlichen Existenz abspaltete. Das Gift der Selbsterkenntnis verabreicht Peter von Zahn seinen Zuhörern in winziger Dosis. Er sagt nicht "Die Mörder sind unter uns" wie der 1946 herausgekommene DEFA-Spielfilm von Wolfgang Staudte, aber er verweist in milder Freundlichkeit auf genau diesen Tatbestand. Er sagt, die Täter waren keine Monster: "Es waren keine sozial Deklassierten, keine entlassenen Sittlichkeitsverbrecher, sondern Dutzendfiguren, Normalbürger auf den ersten Blick, die für ihre Rüstungsfirma das Letzte aus den jüdischen Sklaven herauspeitschten. Leute, die sich in Leipzig, wo sie zu Hause waren, sicher gesittet und höflich benahmen, in Polen aber aufführten als gälte es zu beweisen, dass niemand grausamer ist als der Mensch zum Menschen."
Journalisten aus den Westzonen waren im Gerichtssaal nicht zugelassen. Peter von Zahn verwendet in seinem Beitrag Mitschnitte des Rundfunks der Ostzone: Interviews und O-Töne aus Leipzig. Das war keineswegs selbstverständlich zum Zeitpunkt des Berichts Anfang 1949. Ein biografisches Detail mag da eine Rolle gespielt haben: Peter von Zahns Schwester ebenso wie ihr Ehemann waren Kommunisten und lebten in der Ostzone – die DDR existierte noch nicht, sie wurde im Oktober 1949 gegründet.
Marianne Weil
Biografie Peter von Zahns
Peter von Zahn, geboren am 29. Januar 1913 in Chemnitz, starb am 26. Juli 2001 in Hamburg. Er wuchs als Sohn eines Offiziers in Dresden auf, studierte Jura, Geschichte und Zeitungswissenschaften und promovierte 1939 in Freiburg/Breisgau. Im Zweiten Weltkrieg war er Kriegsberichterstatter in einer Propagandakompanie der Wehrmacht, ab 1942 im Einsatz an der Ostfront. Nach wenigen Wochen britischer Gefangenschaft in Holstein, wo er schon als Dolmetscher fungierte, ging Peter von Zahn 1945 in das unzerstörte Hamburger Funkhaus an der Rothenbaumchaussee, das die britische Militärregierung übernommen hatte. Die Briten suchten deutsche Mitarbeiter. Beide Seiten wurden sich schnell einig. Dabei spielten neben den journalistischen Fähigkeiten Peter von Zahns auch seine Sprachkenntnisse eine Rolle – er sprach Englisch und Russisch. Dass seine Vergangenheit in einer Propagandakompagnie an der Ostfront kein Hinderungsgrund für die Einstellung war, mag verwundern. Aber Peter von Zahn war nie Mitglied der NSDAP. Und, was vielleicht noch wichtiger für die Briten war, er war seit 1939 mit Christa Ayscough aus Schottland verheiratet, die mit der Familie Stauffenberg befreundet war und nach dem Attentat auf Hitler, obwohl nicht an der Verschwörung beteiligt, zeitweise im Gefängnis saß.
Nach einer Sicherheitsüberprüfung im Juli 1945 übertrugen die Briten dem gerade ins Zivilleben entlassenen Offizier der feindlichen Propagandakompanie die Abteilung "talks and features".
Die Engländer wollten in Deutschland einen demokratischen Rundfunk nach dem Vorbild der BBC aufbauen mit einem breiten Spektrum an politischen Ansichten, mit glasklarer Trennung von Information und Meinung und ohne den Einfluss von Politik und Parteien. Männer wie Peter von Zahn, Axel Eggebrecht, Peter Bamm und Ernst Schnabel gehörten zu den Pionieren des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), der damals das heutige Sendegebiet von WDR und NDR umfasste. Sie führten Interviews, schrieben Kommentare und Hörspiele, diskutierten an Runden Tischen und entwickelten auch eine neue Sendeform, deren Vorbild in England "Feature" hieß. Der deutsche Vorläufer trägt den Namen Hörbild. Lange Zeit war diese Bezeichnung in süddeutschen Radiosendern vorherrschend, während der Begriff Feature mehr im Nordwesten üblich war.
Drei lange Feature über das Ruhrgebiet schrieb Peter von Zahn, die 1949 in der Reihe rororo des Rowohlt-Verlags unter dem Titel "Die schwarze Sphinx" gedruckt wurden. 1948 ging Peter von Zahn als Leiter des NWDR-Studios nach Düsseldorf, von wo er regelmäßige Berichte "Von Rhein und Ruhr" sendete. 1951 wurde er Auslandskorrespondent in Washington. 1961 gründete er die erste private Produktionsfirma "Windrose", die Berichte aus dem Ausland für das deutsche Fernsehen lieferte, ein Vorläufer der späteren Magazine "Weltspiegel" oder "Auslandsjournal".
Ergänzendes Material
Peter von Zahns Definition von Feature:
"Ich war Leiter der Abteilung ‚Talks and Features’ und wusste anfangs noch nicht einmal, was mit ‚Features’ gemeint war. Für englische Journalisten ist das ein fest umrissener Begriff. Wir versuchten ihn mit ‚Hörfolge’ zu übersetzen, gaben das aber auf, als wir merkten, dass Feature ein Korb ist, in den man alles packen kann, was nicht gerade aktuelle Nachricht oder Kommentar ist. Wir entwickelten das Feature zu einer eigenen Kunstform. Wenn ich in späterer Zeit seine Naturgesetze erklären wollte, legte ich eine Schallplatte auf und spielte die ersten zehn Minuten der Matthäus-Passion von Bach. Erzähler, Chor, Solisten im Monolog und Dialog, musikalische Zwischenspiele, Reportagen und lyrische Betrachtung – alles deutet darauf hin, dass Passionen, Motetten und Oratorien des Barock das Feature auf vollendete Weise vorweggenommen haben."
(Peter von Zahn, Stimme der ersten Stunde. Erinnerungen, Stuttgart 1991, p261. Als O-Ton in "Feature ist Feature" von Frank Olbert, DLF 1995).
Ausgewählte Radiostücke
"Hier ist London – Anatomie einer Weltstadt" (NWDR 1948)
"Hörbild über den Kamiena-Prozess in Leipzig" (NWDR 1949)
"Von nah und fern. Beschreibung einer Reise durch das Ruhrgebiet der Nachkriegszeit" (NWDR 1951)
"Großer Strom und kleine Schleusen. Hörfolge über den St. Lorenz-Strom" (NDR 1956)
"Hörbild über den Kamiena-Prozess in Leipzig" (NWDR 1949)
"Von nah und fern. Beschreibung einer Reise durch das Ruhrgebiet der Nachkriegszeit" (NWDR 1951)
"Großer Strom und kleine Schleusen. Hörfolge über den St. Lorenz-Strom" (NDR 1956)
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