Unser Vater der du bist in der Hölle
57:53 Minuten
Am 18. November 1978 starben in Guyana 913 Männer, Frauen und Kinder durch Massenselbstmord. 600 Tonbandkassetten bezeugen, wie Sektenoberhaupt Jim Jones seine Jünger, die „Jones-People“, in den Abgrund führte.
Am 18. November 1978 starben in Guyana 913 Männer, Frauen und Kinder durch Massenselbstmord. Jim Jones, Oberhaupt der Sekte der Jones-People, hatte seine Anhänger in die Utopie einer nicht-rassistischen und nach strikter Gleichheit lebenden Kommunität verführt. Aber aus der Herde Gottes wurde eine Herde Gefangener. Das FBI fand in Guyana 600 Tonbandkassetten mit 900 Stunden Material. National Public Radio Washington gelang es nach langem Bemühen, das Material freizubekommen. Die US-Produktion wurde 1983 mit dem Prix Italia ausgezeichnet.
Unser Vater der du bist in der Hölle
Das Ende von Jonestown
Von James Reston Jr.
Deutsche Adaption: Sibylle Tamin
Regie: Waclaw Stawny
Mit: Roland Schäfer, Christian Brückner, Ulrich Kuhlmann, Hansi Jochmann, Melanie Hagege, Vincent Gressieker, Heinz Rabe, Eva-Maria Werth, Vera Kluth, Uwe Müller, Andreas Thieck
Ton: Erdmann Müller
Produktion: NPR Washington/SFB 1988
Länge: 57’47
Das Ende von Jonestown
Von James Reston Jr.
Deutsche Adaption: Sibylle Tamin
Regie: Waclaw Stawny
Mit: Roland Schäfer, Christian Brückner, Ulrich Kuhlmann, Hansi Jochmann, Melanie Hagege, Vincent Gressieker, Heinz Rabe, Eva-Maria Werth, Vera Kluth, Uwe Müller, Andreas Thieck
Ton: Erdmann Müller
Produktion: NPR Washington/SFB 1988
Länge: 57’47
Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
Eine Bemerkung vorab: Dieser Text bezieht sich auf die deutsche, gekürzte Adaption des Features von Sibylle Tamin – die in vielerlei Hinsicht beeindruckt.
Wir haben es hier mit einem Stück zu tun, das zunächst einmal von einem ungeheuren Materialfund profitiert. Und einer packenden Geschichte. Beides wird auf beeindruckende Weise zusammengeführt in einem spannenden, aufschlussreichen und immer beklemmenderen Stück. Meisterhaftes Storytelling und Wahrheitssuche gehen auf überzeugende Weise Hand in Hand. Dazu kommt eine kluge akustische Umsetzung, die dem Plot das ihre hinzufügt.
So einen Glücksfall gibt es in der Radiogeschichte selten: 1978, nach dem "Jonestown Massaker" findet das FBI in Guyana 600 Tonbandkassetten, die es später an das National Public Radio Washington weitergibt.
Und der Fund hat es in sich. Wie sich herausstellt, hat der selbsternannte Sektenführer Jim Jones – im Stück von seinen Jüngern nur "Vater" genannt – von seinen allerersten Reden nach der Gründung des Tempels 1956 in Indianapolis, bis zum Ende im Guyanischen Dschungel seine Auftritte selbst und umfassend dokumentiert. (Im Hintergrund ist dabei oft eine Schreibmaschine zu hören. Wahrscheinlich hat er im Größenwahn auch schriftliche Protokolle anfertigen lassen, um sein Wirken für die Nachwelt zu dokumentieren.) Die Jünger kommen ebenfalls zu Wort. Anlass sind meist öffentliche Glaubensbekenntnisse oder andere Auftritte vor der Gemeinde. Die kollektive Lossagung von den jeweiligen Herkunftsfamilien. Die Lobpreisung des Sektenführers usw.
In den Aufnahmen hört man den euphorischen, nicht uncharismatischen Grundton des frühen Jim Jones, der sich als Antifaschist und Bürgerrechtler in der Tradition Martin Luther Kings präsentiert.
Warum Jones so lange breite Anerkennung fand in der amerikanischen Gesellschaft aber auch im politischen Betrieb, beantwortet James Reston so.
Man hört ihn später, im Dschungel, seine Jünger als "dumme verpisste Reptilien" beschimpfen und erniedrigen. Man hört ihn zunehmend schwächer werden, gezeichnet vom körperlichen Verfall durch verschiedene Erkrankungen – und kann die damit einhergehende Paranoia fast physisch spüren. Man hört ihn kleine Kinder zu Rache- und Gewaltakten gegenüber ihrer (außerhalb der Sekte lebenden) Verwandtschaft anstiften. Kleine Jungs, die ihren Müttern unter dem Jubel einer wirklichen großen Menschenmenge und dem hysterischen Gelächter des Sektenführers den schlimmstmöglichen Tod wünschen und diesen detailreich beschreiben. Man hört auch sehr gebildete, aufgeklärte Mitglieder, die vor dem Mikrofon in ihren eigenen Worten erklären, warum sie sich der Sekte angeschlossen haben. All dies ist sehr aufschlussreich.
Vorangetrieben wird die Geschichte von einem Erzähler (Christian Brückner), der zwar allwissend scheint, gleichzeitig aber aus der Perspektive eines fiktiven Sektenmitglieds spricht, so erklärt sich die Anrede "Father". Mit dieser Mischfigur aus auktorialem Erzähler und involviertem Beobachter, findet Reston einen besonderen Erzählton, der eine Nähe zum Geschehen herstellt und aus dem Innenleben der Sekte berichten kann – einen Mix aus Insider und Beobachter.
Gleichzeitig treibt er so die Story voran. Und führt sie zielstrebig über verschiedene Eskalationsstufen auf den großen Showdown im November 1978 zu. Und bildet mit seinem ruhigen und klaren Tonfall einen Gegenpol zur spannungsvollen Handlung und der Hysterie der Sekten-O-Töne. Zugleich fungiert er als eine Art letzter Zeuge, als Überlebender und Übermittler, der auch dann noch weiter erzählt, als die anderen Jünger ihre mit Zyankali versetzte Limonade getrunken oder – im Fall der Weigerung – ihre entsprechende Spritze zwangsweise verpasst bekommen haben. Darunter über 200 Kinder. Das Stück endet ruhig, nicht reißerisch und verzichtet zum Ende auf jede akustische Zuspitzung.
Es gibt vieles, das man an diesem Stück preisen kann, über das Gesagte hinaus. Ein guter Umgang mit dem O-Ton, der durch die Overvoices nie verstellt wirkt. Die beinahe literarische und zugleich dokumentarisch präzise Sprache im Erzählertext und bei den Overvoices. Die Auswahl besonders aussagekräftiger O-Töne aus diesem riesigen Konvolut.
Die gelungene dramaturgische Verdichtung, die nicht verflachend wirkt. Moniert wurde in unserer Kritiker-Runde, dass die Anfangszeit der Sekte auf Kosten des Suspense-Faktors etwas zu kurz kommt. Was man tatsächlich bedauern kann, da man sich natürlich die ganze Zeit über fragt, wie der Peoples Temple fast zwei Jahrzehnte lang gesellschaftlich akzeptiert und politisch fast hofiert werden konnte. (Jim Jones war im politischen Establishment Kaliforniens breit akzeptiert, Mitte der 1970er Jahre z.B. Vorsitzender der Wohnraumkommission in San Francisco – wie man aus dem Stück erfährt). Dieser Frage sollte sich vielleicht ein anderes Feature widmen. Zumal die Attraktivität sektenhafter Gruppierungen ja scheinbar ungebrochen ist. Aus den wabernden Musik-Teppichen und dem Re-Enactment-Theater der Overvoices spricht die Zeit. Der Rest… ist für die Ewigkeit.
Die US-Version mit dem Titel "Father Cares: the Last of Jonestown" wurde 1983 mit dem Prix Italia ausgezeichnet. Zum selben Thema gibt es auch ein Feature von Carrie Asman mit dem Titel "Unter Einfluss", in dem zwei Überlebende des Massakers berichten. Auch eine interessante Geschichte: Der unrühmliche Umgang mit den wenigen Überlebenden und Aussteigern im Anschluss.
Tanja Runow
Biografie
James Reston jr., geboren 1941 in New York, studierte Philosophie und lebt in Chevy Chase, Maryland. Bekannt ist er vor allem als Journalist und als Autor von über 20 Büchern und Theaterstücken.
James Reston jr., geboren 1941 in New York, studierte Philosophie und lebt in Chevy Chase, Maryland. Bekannt ist er vor allem als Journalist und als Autor von über 20 Büchern und Theaterstücken.
Er war außerdem Assistent des amerikanischen Innenministers Stewart Udall (1964–1965) war Intelligence Officer während des Vietnamkriegs (1965-1968). Und unterrichtete danach Creative Writing an der Uni in North Carolina. (1971-81). Außerdem war er der Berater von David Frost für die Watergate-Interviews mit Richard Nixon (1966/77). Sein Buch "The Conviction of Richard Nixon" ist auch die Grundlage für das Theaterstück und den Hollywoodfilm Frost/Nixon. (In dem Reston auch als Figur vorkommt, gespielt von Sam Rockwell). 1985 war er der von Newsweek, PBS, and BBC auserkorene Kandidat für den "ersten Schriftsteller im Weltall an Bord des NASA Space Shuttles. Das Vorhaben wurde nach dem Challengerunglück 1986 fallen gelassen.
Sibylle Tamin, geboren 1949 studierte Theaterwissenschaft und an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Sie arbeitet als freie Autorin für Fernsehen und Hörfunk und war jahrelang als Essayistin und Rezensentin bei der FAZ tätig. Stücke u.a.: "Schluss und Ruh. Ein deutsches Genrebild" (DKultur/RBB 2005), "Der Fall Arnold" (NDR 2013).