Anders hören lernen
12:20 Minuten
Im Zeitalter des Smartphones und der Video-Plattformen kommen die Ohren als Sinnesorgane zu kurz. Um die neu zu schärfen, haben Künstlerinnen Audiowalks durch Weimar und Basel entwickelt. Während es Lena Löhr um das intensive Hörerlebnis geht, spielt Sibylle Hauert auch mit dem zeitversetzten Hören.
Der sonnige Morgen in Weimar beginnt mit Yoga der besonderen Art: Aufmerksamkeitsübungen für die Ohren.
"Dafür könnt ihr gerne die Augen schließen. Es ist ein bisschen einfacher, sich dann darauf zu konzentrieren und macht eure Ohren erstmal weit auf und versucht so viel wie möglich zu hören in eurer Umgebung."
Sechs Menschen stehen im Kreis um Lena Löhr herum. Zusammen mit der Radioautorin Carina Pesch leitet die Ethnologin den Workshop "Sound Walk in drei Gehörgängen".
"Und jetzt versucht mal, euer linkes Ohr zu verschließen - die Hände bleiben unten - und nur zu hören, was in euer rechtes Ohr kommt."
Eine Stunde lang nicht miteinander reden
Die Stadt als Soundlandschaft bewusst wahrnehmen, darum soll es bei diesem Spaziergangs-Workshop gehen. Die erste Herausforderung: Wir dürfen eine Stunde lang nicht reden. Und auch Lena Löhr wird sich nur per Zeichensprache mit uns verständigen.
"Ich zeig euch jetzt noch ein paar Zeichen für die Sachen, die wir gerade ausprobiert haben. Wenn wir zwischendurch stehen bleiben, mache ich vielleicht mal ein Zeichen, dass ihr eure Aufmerksamkeit auf Geräusche legen sollt, die besonders weit weg sind. Die Arme so:" Lena Löhr formt mit den ausgestreckten Armen ein V über ihrem Kopf.
"Und wenn ihr auf die ganz nahen Geräusche hören sollt, so, die Hände zusammen. Und wenn ihr auf die ganz leisen Geräusche hören sollt, die Hand vor den Mund und wenn ihr auf die lauten hören sollt, so vor die Ohren halten."
Los geht es mit bloßen Ohren. Am Brunnen vorbei über den Platz. An einer Straße entlang zum Hintereingang eines Hotels. Wir bleiben auf dem Gehweg gegenüber stehen und lauschen. Die Hotelangestellten rauchen vor der Tür und unterhalten sich. Sobald ich meinen Blick von ihnen löse, höre ich aber noch viel mehr: das entfernte Geklapper von Geschirr und aus einem Fenster tönt leise Musik.
Weiter geht’s, mit weit geöffneten Ohren durch die Stadt. Dann fordert uns Lena Löhr mit Gesten dazu auf, die mitgebrachten Aufnahmegeräte anzuschalten und die daran angeschlossenen Kopfhörer aufzusetzen. Plötzlich eröffnet sich eine völlig neue akustische Welt. Klänge, denen man zuvor keine Beachtung geschenkt hat, treten nun deutlich hervor. Lena Löhr führt uns durch klingende Metallstäbe, hallende Hinterhöfe und an singenden Luftschächten vorbei.
Auf die Ohren angewiesen sein
Dann folgt die größte Herausforderung des akustischen Spaziergangs: In einem Park treffen wir auf die zweite Gruppe, die von Carina Pesch angeführt worden ist. Wir bekommen Schlafmasken ausgeteilt und sind von nun an blind. Mit den Händen auf den Schultern unseres Vordermenschen schlurfen wir vorsichtig durch die Innenstadt von Weimar. Es geht durch enge Gassen und an befahrenen Straßen vorbei. Hin und wieder überholt uns ein Fahrradfahrer oder wir hören die verwunderten Kommentare der Passanten. Es geht über holprigen Untergrund, Mäuerchen hinauf und Stufen hinab. Vor lauter Konzentration auf meinen Körper und die anderen Körper und Gegenstände um mich herum, gerät das analytisch-ästhetische Hören für mich komplett in den Hintergrund.
Der Rundgang endet in den Räumen der Bauhausuniversität, hoch über den Dächern von Weimar. Als wir nach einer halben Stunde unsere Augenklappen wieder abnehmen dürfen, blinzeln wir erstmal etwas verstört ins grelle Sonnenlicht. Bei der anschließenden Feedbackrunde wird deutlich, dass jede und jeder ganz unterschiedliche Erfahrungen gesammelt hat:
Teilnehmerin 1: "Ich finde, wenn man blind läuft ist die Erfahrung am intensivsten, weil man wirklich nichts über's Auge reinbekommt. Vorher hat man ja trotzdem noch die Füße und Dinge, die an der Seite passieren. Dadurch wird dem Hören immer ein Stückchen weggenommen. Und am Ende war's so, dass es ausschließlich ums Hören ging und noch ein anderer Sinn verstärkt wurde, nämlich das Empfinden des Körpers und das Tasten. Das fand ich eine sehr starke Kombination.
Teilnehmer: "Mir ging‘s ein bisschen anders. Weil, als ich blind war, musste ich mich so konzentrieren, wer vor mir geht und ich war so sehr: ‚Okay, wie laufe ich jetzt?‘ Und dann war so ganz viel von meiner Aufmerksamkeit, wie bewege ich mich eigentlich? Vorher brauchte ich ein bisschen, aber dann konnte ich das alles wunderbar ausblenden."
Teilnehmerin 2: "Ja, ich fand auch, dass das blinde Hören eher so ein Orientierungshören war, also es hat geholfen, nicht zu fallen und zu wissen, wer vor einem ist oder ungefähr zu wissen, wie die Person läuft und dann auch so zu laufen. Und das Hören über die Kopfhörer, also das verstärkte Hören: Also, ich hab ja gesehen, was ich sonst auch höre, habe das dann aber auf eine ganz andere Art und Weise gehört. Wenn die Steine so ein bisschen geklirrt haben, was man ja sonst überhaupt nie so wahrnimmt. Da war vielleicht ein direkterer Fokus auf das Hören und was ich genau höre."
Akustische Brüche in der Stadt wahrnehmen
Und was war die Intention der Workshopleiterinnen? "Na, die Leute neugierig machen, auf jeden Fall. Und dafür sensibilisieren, wo es überall Klänge zu entdecken gibt in der Stadt, die wir im Alltag nicht so wahrnehmen und was so eine Stadtakustik eben auch ausmacht. Es gibt ganz spannende akustische Orte zu entdecken, die für den Ort speziell sind. Wie wir ja gemerkt haben, die wir uns in Leipzig gut auskennen, haben wir nach einer Passage gesucht. Weil das so ein toller Effekt ist, wenn man in Leipzig zum Beispiel durch so eine Passage läuft und dann öffnet sich der Marktplatz und dann hat man so einen ganz krassen akustischen Umbruch. Den haben wir in Weimar vergeblich gesucht. Weil es diese Art Passagen hier einfach nicht gibt."
"Und für mich ist das auch so eine Art Meditation. Also, es ist ja auch diese Stunde gar nicht sprechen, das ist ja was, was man sonst nie macht. Wenn man unterwegs ist in einer Gruppe, unterhält man sich immer und kommentiert immer sofort und verknüpft das mit anderen Erinnerungen. Und das ist so eine Art und Weise, eine Stunde lang ganz im Moment zu sein und das intensiv wahrzunehmen. Und das ist für mich auch entspannend, andere finden das auch anstrengend."
"Ich finde, das ist so wie eine Reise. Also Reise im Gegensatz zum Urlaub. Also, Urlaub ist so: Ich lieg am Strand, ich lehn mich zurück und mache so gar nichts und erhole mich. Und eine Reise ist ja so: Ich habe auch diese Momente, aber ich habe auch Herausforderungen und ich habe auch Phasen, da ist es auch anstrengend und dann aber auch ein Erlebnis, was man mitnimmt und was irgendwie bleibt."
Site-spezifischer Audiowalk in Basel
Die Zuhörer auf eine Reise schicken, das will auch Sibylle Hauert mit ihrem Audiowalk H.E.I.Guide. Sie verwendet dafür allerdings sehr viel mehr Technik: Die Teilnehmer werden mit einem Smartphone und Kopfhörern ausgestattet. An den Kopfhörern befinden sich ein Bewegungssensor. Das Smartphone trackt die GPS-Daten der Teilnehmer und leitet diese an eine App weiter. Je nachdem wo im Raum man sich gerade befindet werden dann Geräusche per Kopfhörer abgespielt, die die Schweizer Künstlerin vorher per App im Raum verteilt hat:
"Auf dem Computer habe ich ein Programm, eine Karte, den Bereich, den ich bespielen möchte, habe ich vor mir. Also, ich kann ein Musikfile nehmen und ihn an einer bestimmten Stelle im Raum platzieren, mit einer XY-Koordinate. Und dann kommt das Spezielle: Ich kann diesem Sound ganz viele Attribute zuweisen. Ich kann dieses Soundfile nämlich nicht nur stereo oder mono abspielen, sondern ich kann es auch binaural abspielen." Das heißt, wenn sich jetzt links von mir der Rhein befindet, dann höre ich das Wasser links rauschen. Wenn ich den Kopf jetzt zum Rhein drehe, dann höre ich das Wasserrauschen von vorne. Und wenn ich mich umdrehe, dann habe ich es auf dem rechten Ohr. Also, das Wasser bleibt da, wo es sein soll, das heißt, das Geräusch des Wassers."
Der Audioguide ist site-spezifisch, also auf einen ganz bestimmten Ort abgestimmt. In diesem Fall auf den Rheinhafen in Basel.
"Es ist eine Brache. Brachen sind ja so eine Art Lücken im Stadtgebiet. Die sind noch nicht so definiert, die lassen ganz viel offen. Sie eignen sich sehr gut zum Flanieren, zum ziellos Herumspazieren, zum Entdecken. Es ist ein Ort, auf dem eine Zwischennutzung stattfindet: Es gibt einen Wagenplatz, wo Leute wohnen, es gibt aber auch immer noch die alte Industrie, die Hafenbahn, die sehr geräuschvoll auf dem Gelände verkehrt. Es gibt ein Geschäftshaus mit Menschen in Anzügen und Krawatten, es gibt Flussfahrtschiffe, die dort stationiert sind. Es ist ein Stadtgebiet, wo ganz viele Menschen sich kreuzen. Ich habe dann auch bemerkt, dass ganz viele Leute, die nicht aus der Szene sind, sich gar nicht in dieses Zwischennutzungsgelände wagen. Weil es gibt keine Wegführung, also fühlt man sich nicht eingeladen, dort einzudringen, obwohl es öffentlicher Raum ist und die Kopfhörer sind so eine Art Eintrittskarte. Eine hat zum Beispiel zu mir gesagt, sie hat sich unsichtbar gefühlt. Sie konnte auch ganz nah zu anderen Menschen hingehen, ohne dass sie sich gestört hat. Oder andere haben gesagt: Wow, ich war noch gar nie da hinten bei der Skaterbahn, die habe ich noch nie bemerkt. Man ist aufgefordert, zu entdecken und mit diesem Aspekt des Kopfhörers bewaffnet, traut man sich das auch."
Zeitversetztes Hören
Ursprünglich schwebte der Autorin ein sehr textlastiges, informatives Audiostück zur Geschichte und Entwicklung des Geländes vor. Doch dann entschied sie sich, den Fokus der Teilnehmenden mehr auf das zu lenken was ist beziehungsweise sein könnte.
"Und dann habe ich plötzlich bemerkt, dass diese Texte eigentlich dauernd stören. Die hindern mich am Zuhören, also am Ohren offen machen, weil ich ja dann immer auf den Inhalt konzentriert bin und gar nicht auf den Ort, an dem ich mich gerade befinde. Und dann habe ich mich entschlossen, das ganze Konzept über Bord zu werfen und dann stand ich ‚blut‘ da - nackt heißt das auf Deutsch. Und so nackt habe ich dann das Allererste gemacht, was man halt so macht: Man nimmt einfach Geräusche vor Ort auf und ich habe erst im Nachhinein bemerkt, dass die Dissonanz, vor allem, wenn ich sie zeitlich einsetze, unheimlich interessant wird. Wenn man es zum Beispiel zeitlich versetzt. Also, das Gelände ist im Sommer sehr, sehr, sehr belebt. Die Leute schwimmen da, grillen da, hören laute Musik, spielen Ping Pong und im Herbst verschwindet das so langsam. Und dann ist es natürlich wahnsinnig toll, dass du zwar noch an dem Ping Pong-Tisch vorbei gehst, aber da spielen zwei Ping Pong, aber es niemand da - und da bekommt es noch eine andere Dimension."
Mit ihrem Audioguide eröffnet Sibylle Hauert aber nicht nur den Zuhörerinnen neue Perspektiven, auch sie selbst hat durch ihre Arbeit gelernt, anders zu hören.
"Ich hab zwar schon viel Musik gemacht, Klanginstallationen gemacht - Ich habe mich nur sehr selten mit Alltags- oder Umgebungsgeräuschen beschäftigt. Ich find's wirklich unglaublich spannend, wie viel Informationen in den Geräuschen drin steckt, die wir – um wahrscheinlich zu überleben – im tagtäglichen Leben dauernd wegfiltern. Wir können sagen, es ist schönes Wetter, ob es Nacht ist, ob ich mich ganz nah am Wasser befinde. Und all diese Informationen sind uns gar nicht bewusst. Also, ich habe das Ohr als Wahrnehmungs- und Informationsgeber schon neu entdeckt."