Lauterbach (SPD) - "Sterbefälle schädigen Wirtschaft mehr als Lockdown"
Wie sich die Infektionen entwickeln und ob es zu einem Lockdown kommt, sei weniger abhängig von Maßnahmen als vom Verhalten der einzelnen, sagte Karl Lauterbach (SPD).
Als ob es kein Morgen gäbe
43:41 Minuten
Leben vor Lebensqualität stellen - das finden Feiernde bedenklich, die trotz Corona in Berlin illegale Raves besuchen. Doch es geht auch anders: Viele Berliner Clubs erproben neue Konzepte, um auf sichere Weise Besucher empfangen zu können, wie Veranstaltungen in Zelten oder Kunst-Performances statt Party.
Corona-Partys waren ein medialer Aufreger des letzten Sommers. In Parks und Wäldern in und um Metropolen wie Berlin trafen sich junge Menschen, um sich an Musik, Drogen und Alkohol zu berauschen. Eine schnell aufgestellte Soundanlage reichte oft schon, um die Sorgen des Corona-Alltags zu vergessen. Im Juli löste die Polizei eine Party im Berliner Volkspark Hasenheide auf: 5.000 Menschen waren gekommen. Überregionale Medien berichteten und meinten, die Feiernden seien egoistisch und unsolidarisch mit den Alten und Kranken.
Partygänger: Leben wird vor Lebensqualität gestellt
Die Feiernden sehen das naturgemäß anders: "Dass Corona existiert, ist mir durchaus bewusst", sagt Carlos. Seine Eltern in Kolumbien hätten sich mit dem Virus infiziert. Carlos, der eigentlich anders heißt, steht in einer Traube von etwa 70 Menschen, die sich während des Sommers jeden Freitag in Berlin-Kreuzberg an der Spree trafen. Ob die Corona-Auflagen eingehalten werden, überprüft hier niemand – Polizei und Ordnungsamt lassen sich die ganze Nacht über nicht blicken. Natürlich sei er auch schon auf illegalen Raves gewesen, erzählt Carlos. Das sei auch kein großes Problem: Die Partys fänden schließlich an der frischen Luft statt. Da sei die Gefahr, sich beim Einkaufen anzustecken doch um vieles höher. Carlos ist erst im Frühjahr aus Kolumbien nach Deutschland gekommen – in einer Zeit, in der das Land gerade im Lockdown steckte. Wer viel arbeite wie er, der sei auf Partys angewiesen, um den Kopf frei zu bekommen. Und um Menschen kennenzulernen in dieser fremden Stadt, meint der Kolumbianer.
Wie Carlos sehen es viele an diesem Abend. Max, der eigentlich auch anders heißt, aber nicht im Radio erkannt werden will, kritisiert, dass all die Hygiene-Auflagen die psychische Gesundheit der Menschen außer Acht ließen: "Diese Angst vor dem Tod ist durchaus berechtigt, ich finde es aber bedenkenswert, wenn Leben vor Lebensqualität gestellt wird."
Legale Raves sind ein Drahtseilakt
Feiern ja, aber in kontrolliertem Rahmen, das ist das Motto beim "Goa Nature"‑Festival in Rüdersdorf, eine Stunde östlich von Berlin. 1.000 Karten wurden für das dreitägige Event verkauft – mehr waren in Brandenburg im Sommer nicht zugelassen. Für die Veranstalter sind diese Partys ein Drahtseilakt: Einerseits sind sie froh, eine Einkommensquelle zu haben und im Gespräch zu bleiben. Andererseits ist da immer die Sorge, zum Corona-Hotspot zu werden und somit der gesamten Szene zu schaden. Polizei und Gesundheitsamt sind vor Ort um zu überwachen, ob alles geregelt abläuft: ob die Abstandsregeln eingehalten werden und jeder beim Bestellen oder beim Toilettengang einen Mund-Nase-Schutz trägt.
Für die Festival-Gäste heißt das: Partymachen mit angezogener Handbremse. Das mag für manche wie ein Widerspruch klingen, Liquid Soul, DJ und Headliner auf dem "Goa Nature", findet aber, dass die Stimmung sogar noch besser ist als vor der Pandemie. Früher, meint er, waren die Leute übersättigt von dem dichten Angebot an Festivals und Feiern. Jetzt gäbe es eine große Dankbarkeit für jede Möglichkeit, endlich wieder tanzen zu können. "Es ist kleiner, aber emotionaler", freut sich der DJ aus der Schweiz.
Innovative Konzepte für Corona-konforme Parties
Jetzt, wo der Sommer vorbei ist und es immer kälter wird, endet auch die Open‑Air‑Saison. In geschlossenen Räumen aber ist das Infektionsrisiko sehr viel höher als draußen. Legale Veranstaltungen sind dort nicht denkbar. Die Veranstalter des "Goa Nature"-Festivals wollen es mit einem Zelt in Berlin versuchen – die Seiten geöffnet für die Durchlüftung und Wärmestrahler gegen die Kälte, der Club "Magdalena" in Berlin-Friedrichshain hat dieses Konzept bereits erprobt.
Gegenüber der "Magdalena" befindet sich der "Salon zur Wilden Renate". Die Betreiber dieses Clubs haben ein anderes Konzept entwickelt, um weiter Besucher empfangen zu können: Kunst statt Party. In den Räumen des wohnhausähnlichen Clubs konnten Besucher bis zum 6. Oktober 2020 Installationen und Performances von Künstlerkollektiven sehen. "Overmorrow" hieß die Ausstellung, die eigentlich eher wie eine burleske, etwas makabre und sexuell aufgeladene Geisterbahn wirkte.
In den einzelnen Zimmern des Clubs verwirklichten Künstlerinnen und Künstler ihre Visionen rund um das Thema Feiern und Corona. Es ging um die Sehnsucht nach Exzess auf der einen Seite – und dem Gefühl der permanenten Selbstkontrolle und Überwachung auf der anderen Seite. In einer grotesk-gruseligen Horror‑Inszenierung wurden aber auch Depressionen und Einsamkeit verarbeitet. Die Show ist vorerst vorbei, aber die Club-Betreiber planen schon weitere Ausstellungen und Inszenierungen, auch wenn Benedikt Bogenberger, der für die Künstlerbuchungen verantwortlich ist, zu bedenken gibt: "Wir planen aktuell zwei Wochen im Voraus. Länger geht nicht, weil sich die Regelungen immer ändern können." Er betont aber auch, dass die Clubs der Stadt viel Unterstützung vom Senat erhielten und die "Wilde Renate" finanziell bis zum Ende des Jahres abgesichert sei.
Jugendforscher: Lebensabschnitt durch Hygieneregeln geprägt
Matthias Rohrer vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien ist sich sicher, dass nicht nur Clubbetreiber noch lange mit den Auswirkungen des Party-Lockdowns zu kämpfen haben werden. Stark betroffen sind auch junge Menschen, die noch lange mit dem "Generationen-Ereignis", wie er es nennt, zu kämpfen haben werden. Weil ein so entscheidender Lebensabschnitt durch Risiko- und Hygieneregeln geprägt sei, wachse einerseits eine Generation mit hohem Sicherheitsbedürfnis in puncto Karriere und Beruf heran. "Auf der anderen Seite werden die gleichen Menschen im Freizeitbereich noch mehr auf der Suche nach Eskapade sein", sagt der Soziologe voraus.
Dennoch nimmt er die jüngere Generation in Schutz vor dem pauschalen Vorwurf, sie wären verantwortungslos: "Die Grenzüberschreitung ist etwas, das Jugendkultur immer inhärent ist." Aber: "Das Gefühl, das manchmal entsteht, dass jetzt alle jungen Menschen in Deutschland zwischen 14 und 30 hochgradig unvernünftig sind, das kann man weder in den Zahlen sehen, noch in den Studien, die wir machen."