Leben und Sterben im Hospiz
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Wie will ich sterben? Mit dieser Frage will sich wohl kaum jemand auseinandersetzen. Aber zum Leben gehört das Sterben dazu – eine Weisheit, die vielleicht nirgends deutlicher wird als im Hospiz. Wie gehen Pfleger und Menschen, die kurz vor dem Tod stehen, damit um?
Eine unbelebte Nebenstraße von Berlin Neukölln. In das älteste Hospiz Berlins gelangt man mit dem Fahrstuhl. Im fünften Stockwerk leben bis zu fünfzehn Patienten. Wer hier einzieht, weiß, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit nur noch kurze Zeit zu leben hat. Für die Aufnahme im Hospiz gibt es eine klare Bedingung: Der Patient braucht ein medizinisches Attest mit der Prognose, dass er oder sie unheilbar krank ist und bald sterben wird. Hierher kommen Menschen, von denen die Ärzte sagen, sie seien "austherapiert".
Lebensqualität statt Lebensverlängerung
Haupt- und ehrenamtliche Sterbebegleiter, Palliativmediziner und Seelsorger begleiten diese Menschen durch den letzten Abschnitt ihres Lebens. Nicht mehr die Verlängerung des Lebens ist hier das Ziel, sondern die letzten Tage und Wochen möglichst schmerzfrei und in Würde zu verbringen. 120 bis 150 Menschen versterben hier im Jahr.
Lebendiger Alltag
"Was mich ganz besonders erstaunt hat, als ich hier angefangen habe: Ich habe mir immer Hospize dunkel und ängstlich vorgestellt", sagt Michael Liedgens. "Ich war völlig erstaunt, wie hell das hier ist - und wie viel hier gelacht wird." Seit Jahren schon engagiert er sich ehrenamtlich.
Er sitzt er am Empfangsschalter, nimmt Anrufe an, begrüßt Besucher. Liedgens zeigt auf eine große durchsichtige Truhe. Darin liegen tausende Papiersterne. Auf jedem steht ein Name. "Wenn der Bewohner hier ankommt, wird ein Stern oben an die Eingangstüre von seinem Zimmer gehängt", erzählt er. Wenn ein Patient stirbt, wird dessen Stern zum Andenken an ihn in die Truhe gelegt.
Rückblick auf das Leben
Auch an der Tür von Helga Kellmann hängt so ein Stern. Sie hat - wie die große Mehrheit hier - Krebs im Endstadium. Sie freut sich über den Besuch und über die Gelegenheit, zurückzublicken: "Ich muss sagen, von der Kindheit bis zur Rente war ein gutes Leben! Ich würde auch nicht viel anders machen", lacht sie.
Individuelle Pflege
Weil sie vor Schmerzen kaum mehr laufen kann, muss Frau Kellmann viel Zeit im Zimmer verbringen. Pflegekraft Philipp Freund bringt ihr das Mittagessen direkt ans Bett. Er ist einer von vier Pflegekräften, die sich die Frühschicht teilen. Das Hospiz, sagt er, sei kein Ort, an dem die Menschen von morgens bis abends über den Tod philosophierten. Und der Tod sei so individuell wie das Leben, das Menschen vorher gelebt haben. "Was die Leute bereuen sind schon eher die Dinge, die sie nicht gemacht haben als die Dinge, die sie getan haben", erzählt er. "Hätte ich mich mal getraut, den Arbeitsplatz zu wechseln, hätte ich mich von meinem Mann getrennt und von der Familie. Ich habe halt nur das eine Leben. Und je kürzer die Zeit wird, desto klarer wird einem das."
Die meisten wollen am liebsten zu Hause sterben
Viele Bewohner haben eine lange Odyssee durch Krankenhäuser hinter sich, bevor sie hier ins Hospiz kommen. Sie erzählen von schlechten Erfahrungen mit medizinischem Personal, dem oft die Zeit gefehlt habe, wirklich auf die Menschen einzugehen. Die meisten schätzen die warme und menschliche Atmosphäre, den ganzheitlichen Umgang hier im Hospiz deshalb umso mehr. Trotzdem: Die meisten Bewohner würden ihr Lebensende am liebsten zu Hause verbringen. In vertrauter Umgebung, unterstützt von den eigenen Angehörigen. Fast 60 Prozent aller Deutschen teilen nach einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes diesen Wunsch. Die Realität aber steht in großem Kontrast dazu. Noch immer stirbt die überwiegende Mehrheit der Menschen in Krankenhäusern.
Eine Geschichte des Verdrängens
Prof. Winfried Hardinghaus ist der Vorsitzende des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands und leitet seit vielen Jahren eine Palliativstation in Berlin. Eine Abteilung im Krankenhaus also, die auf die Behandlung und Betreuung unheilbar kranker Menschen spezialisiert ist. Die Palliativ- und Hospizbewegung sei eine Reaktion auf eine Gesellschaft, die den Tod tabuisiert habe, sagt er.
Medikamente statt Fürsorge
Nach den traumatischen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen sei in der danach aufkommenden Wohlstandsgesellschaft kaum Platz mehr gewesen für Diskussionen über den Umgang mit der eigenen Endlichkeit: "Unser Glaube an Medikamente, der Glaube an technischen Fortschritt in der Medizin war immens groß, was es leichter machte, den Tod zu verdrängen. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir mal sterben könnten", sagt Hardinghaus. Die Folge: Der Tod fand oft unter würdelosen Bedingungen statt: "Ich selbst habe noch erlebt, wie Sterbende im Krankenhaus wirklich in das Badezimmer verlegt wurden zum Sterben."
Positive Entwicklung
Dieses Tabu, sagt Hardinghaus, sei zwar immer noch nicht vollständig aus der Gesellschaft verschwunden. Viel habe sich aber bereits zum Positiven verändert. Dafür sorgen auch innovative Konzepte: Etwa für ambulante oder teilstationäre Hospizdienste, wo Sterbenskranke den Tag verbringen und abends von Angehörigen wieder nach Hause geholt werden können.. "Am Ziel", sagt Hardinghaus, "sind wir damit aber natürlich noch nicht."
(Wiederholung vom 15.02.2019)