Ursendung – Klangtagebuch aus China

Wie war’s in China?

Von Laurent Jeanneau |
Über 10 Jahre lang hat der französische Musiker Laurent Jeanneau in China gelebt. Dort faszinierte ihn vor allem der Reichtum an traditionellen Musikformen und Instrumenten.
In einer Reihe von selbstverlegten CDs dokumentierte er Klänge der verschiedenen ethnischen Minderheiten im Reich der Mitte. Aus diesen Aufnahmen und aus den Geräuschen seines eigenen Alltags hat er nun ein akustisches Tagebuch komponiert.

Autorenproduktion 2015
Länge: ca. 52’

Laurent Jeanneau, geboren 1965 in Fontainebleau, erforscht und dokumentiert traditionelle Musik ethnischer Minderheiten und bedrohter Völker in Kambodscha, Laos, Vietnam, Thailand und China. Als Komponist kombiniert er seine Fieldrecordings mit elektroakustischen Klängen. Seit 2014 lebt Jeanneau in Berlin.



Wie war’s in China?

Als Reisender habe ich 1992 China für mich entdeckt. 2001 und 2006 - 2013 habe ich dort gelebt. In China, aber auch in Kambodja, Laos und Vietnam war ich fasziniert vom Reichtum an Klängen und Musikformen der verschiedenen Minderheiten. Also habe ich begonnen, sie aufzuzeichnen. Mit Mikrofon und Rekorder bin ich durch das Land gereist.
Das Hörstück "Wie war’s in China?" hat drei Elemente: Mein privates Leben in China, mein Leben mit den Musiken des Landes und meine Arbeit als Komponist. Ausgewählt habe ich die Aufnahmen anhand ihrer Schönheit. Das Problem ist: Diese Klänge lassen nichts erahnen von den Schwierigkeiten in China. Aber genau wegen dieser Schwierigkeiten habe ich das Land verlassen.
Straßenverkäufer in Dali (2007).
Straßenverkäufer in Dali.© Laurent Jeanneau
Eine große Verwirrung. Ein Zwischenraum. Ein Nirgendwo. Ich lebe im Nirgendwo. Weder in der asiatischen Grausamkeit, noch in der europäischen Naivität. Weder in der rein traditionellen Musik Chinas, noch in der westlichen Komposition.
"Hai" bedeutet See, Meer, Wasserfläche. "Er" bedeutet Ohr. Der Er Hai ist also der Ohr-See. Er liegt in der Provinz Yunnan. Dort hatte ich das schönste Haus, in dem ich je gewohnt habe. 300 qm, am Ufer des Sees. Ein Paradies! Als ich 2008 einzog, kostete die Miete 1.500 € im Jahr. Jetzt liegt sie bei 9.000 €. Das Dorf ist zu einem Getto für Reiche geworden.
Viele Seen in China sind stark verschmutzt. Es gibt ein berühmtes Foto von einem Kind, das glücklich im Wasser spielt. In seinen Armen hält es eine enorme Wolke aus bräunlichem Schaum.
WA-Frauen in Shuangjiang 2011
WA-Frauen in Shuangjiang - 2011.© Laurent Jeanneau
Unterwegs mit dem Mikro
Für meine Aufnahmen habe ich meist nach den besten Sängerinnen und Musikern des jeweiligen Dorfes gefragt. Wenn das nicht half, dann versuchte ich mit den Leuten auf der Straße ins Gespräch zu kommen. Man unterhält sich, man lacht, man trinkt ein Gläschen oder zwei. Es entsteht eine freundschaftliche Atmosphäre und die Menschen beginnen zu singen.
Die Dai sind eine ethnolinguistische Gruppe im Süden Yunnans. In einem Laden dort stieß ich auf die CD einer traditionellen Sängerin. Ich erkundigte mich nach ihrem Wohnort und fuhr hin. Obwohl die CD schon 15 Jahre alt war, wusste jeder im Ort, wen ich suche. Man führte mich zu ihr. Sie empfing mich sehr freundlich: "Bleib hier, Du kannst mir uns essen und hier übernachten. Morgen bin ich bei einer Zeremonie als Sängerin engagiert. Das kannst Du gerne aufnehmen." Das Fest begann um 9 Uhr Abends und dauerte bis 9 Uhr morgens. Die Sängerin bekam ständig kleine Zettel zugesteckt mit den Namen der Menschen, die sie besingen sollte. Sie pries ihre guten Taten und wurde mit Geldscheinen überhäuft. Ob man reich oder arm ist, man zeigt sich gern großzügig in China.
Zeremonie bei den DAI LUE in Galanga, ITA RAM singt. 2012
Zeremonie bei den DAI LUE in Galanga, ITA RAM singt - 2012.© Laurent Jeanneau
NAXI-Frauen in Lijiang 2010
NAXI-Frauen in Lijiang - 2010.© Laurent Jeanneau
Mobiltelefone sind in China heute überall. Ich kann die Aufnahmen nicht mehr zählen, die durch ein klingelndes Handy unterbrochen wurden. Besonders eingeprägt hat sich mir das Bild eines Bauern: Mit hochgekrempelten Hosen, bis zu den Knien im Schlamm schob er seinen Büffel durch das Reisfeld. Plötzlich zog er sein klingelndes Handy aus der Tasche und ging ran.
Eine Straßenszene: Alte Frauen in traditioneller Kleidung haben einen Ghettoblaster aufgestellt und tanzen. Der Lautstärkeregler steht am Anschlag. Das hat Methode in ganz Asien. Es geht nicht darum, Musik zu hören, sondern darum, die bösen Geister zu vertreiben. Angeblich mögen sie keinen Lärm.
Eine Hochzeit in Yunnan - 2008.
Eine Hochzeit in Yunnan - 2008.© Laurent Jeanneau
Auf den Märkten hat jeder Verkäufer einen kleinen Lautsprecher mit Mikro. Man nimmt seinen Werbeslogan auf und spielt ihn dann in Schleife ab, um Käufer anzulocken. Der ganze Markt ist also ein wildes Gewirr von Klängen. Selbst in den Wohnvierteln sind sie zu hören, wenn die Müllsammler kommen. Sie laufen mit einem typischen Singsang durch die Straßen und kaufen den Anwohnern ihren Müll ab, um ihn zu recyceln.
Bedecktes Schwein auf dem Markt in Guizhou - 2007. 
Bedecktes Schwein auf dem Markt in Guizhou - 2007. © Laurent Jeanneau
Wenn man in Europa chinesisch essen geht, bekommt man fast immer kantonesische Speisen serviert. Die kantonesische Küche ist aber eine der wenigen Kochtraditionen in China, die sparsam würzt. Ansonsten kocht man in China extrem scharf. Überall gibt es Chilifelder. Die Schoten werden in der Sonne getrocknet und mit einfachen Maschinen zerkleinert. Der Klang dieser Maschinen begleitet einen durch das ganze Land.
Malerei hinter Plastikfolie in Guizhou - 2012. 
Malerei hinter Plastikfolie in Guizhou - 2012. © Laurent Jeanneau
China im Umbruch
In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gab es eine große Aufbruchsstimmung in China. Das Regime hatte noch nicht die technischen Mittel, um das Internet zu kontrollieren. Viele Menschen hofften, dass bald ähnliche Verhältnisse herrschen würden wie in Europa oder den USA. Meine Exfrau war eine von ihnen. Als Journalistin und Bloggerin konnte sie relativ frei publizieren.
Autobahnschild in Dali - 2008. 
Autobahnschild in Dali. © Laurent Jeanneau
Die Stadt Dali war in den 00er Jahren auch ein Zufluchtsort für Intellektuelle. Das milde Klima und die niedrigen Lebenshaltungskosten zogen viele Künstler und Schriftsteller an. Darunter auch meine Exfrau, die in Dali ein kleines Café eröffnete. Hier wurden auch avantgardistische Theaterstücke aufgeführt. Sie bestanden meist aus einer Folge von unverbundenen Monologen. Die fehlenden Dialoge spiegelten die Vereinzelung in der chinesischen Gesellschaft.
Der große Umbruch kam mit den Olympischen Spielen 2008. Plötzlich wurde kein einziges Visum für Ausländer mehr verlängert. Das galt sogar, wenn man wie ich mit einer Chinesin verheiratet war. Glücklicherweise hatte ich kurz vor dem neuen Erlass ein sechsmonatiges Visum erhalten und konnte bleiben. Alle anderen um mich herum mussten verschwinden.
Gleichzeitig wurde die Kontrolle über das Internet verschärft – mit technologischer Hilfe von französischen und amerikanischen Firmen. Drei Jahre später setzte mein Nachbar einen Tweet über die Aufstände im arabischen Frühling ab. Er nutzte einen anonymisierten Twitter-Zugang über das Ausland. Trotzdem wurde er sofort verhaftet. Sechs Wochen lang hatte ich den Geheimdienst vor dem Haus. Zwölf Typen mit rasierten Schädeln und Generalschlüsseln für alle Türen. Wenn die etwas wollen, klingeln sie nicht. Sie kommen einfach rein.
Der Klangkünstler Laurent Jeanneau mit seinem Sohn zu Hause in Dali - 2010.
Der Klangkünstler Laurent Jeanneau mit seinem Sohn zu Hause in Dali - 2010.© Laurent Jeanneau
Ich war LAO LO
Ich werde oft gefragt, ob ich in all den Jahren zum Chinesen geworden bin. Meine Antwort ist: Man wird nie Chinese. Diese multikulturelle Vorstellung von Integration gibt es in China nicht. Die Gesellschaft geht davon aus, dass ein Ausländer aus einer radikal anderen Welt kommt. So anders, dass er keine Chance hat, sich je zu integrieren.
Im ganzen Orient gibt es die Angewohnheit, Menschen als Verwandte zu bezeichnen, die man gar nicht kennt. Bruder, Tante, Cousin. Mein Spitzname in China war Chouchou. Das bedeutet Onkel. Ansonsten nannte man mich LAO LO. Den Namen Laurent kann natürlich niemand aussprechen, weil ein r drin ist. Lao heißt alt, und das gilt für jeden über 40. Also war ich LAO LO.